Mit der "nuklearen Option" gegen Polen
19. Juli 2017Die Zeit der vorsichtigen Formulierungen ist vorbei: Wenn diese Justizreform umgesetzt wird, werden "Richter nach dem Ermessen der politischen Führung arbeiten". Durch dieses Gesetzespaket, das sowohl die Wahl der obersten Richter als auch die Aufsicht über ihre Rechtsprechung der Regierung unterstellt, wird "die richterliche Unabhängigkeit in Polen abgeschafft", sagt der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans.
Letzter Aufruf zur Umkehr
Seit anderthalb Jahren schlägt sich die Kommission in Brüssel mit dem zunehmend als anti-demokratisch betrachteten Kurs der PiS-Regierung in Warschau herum. Es gab zunächst Mahnungen, dann wurde Anfang 2016 das sogenannte Rechtstaatlichkeits-Verfahren eingeleitet, das eine Überprüfung der polnischen Justizreform durch die juristische Kommission des Europarates mit sich brachte. Die darin ausgesprochenen Bedenken und Empfehlungen aber wurden in Warschau nicht gehört. Alle weiteren Versuche der Einwirkung blieben ohne Erfolg. Jetzt reagiert die Kommission und beruft sich auf ihre Rolle als Hüterin der Europäischen Verträge, weil sie ihre Glaubwürdigkeit bedroht sieht.
"Diese Reformen sind nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung. Aber mit der Abschaffung des unabhängigen Verfassungsgerichtes kann diese Frage nun nicht mehr überprüft werden", erläutert Frans Timmermans. Ganz klar ist für ihn darüber hinaus, dass das Gesetzespaket nicht vereinbar ist mit europäischen Werten und Grundsätzen, wonach die Mitgliedsländer demokratischen Strukturen verpflichtet sind. Dazu gehören eindeutig die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz. "Die EU ist auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit begründet", so der Kommissar; wenn sie bedroht ist, seien alle europäischen Bürger davon betroffen.
Die nukleare Option
Weil alle Versuche, mit der polnischen Regierung zu reden und sie von ihrem Vorhaben abzubringen, gescheitert sind, droht die Kommission jetzt mit der sogenannten "nuklearen Option": Werden die Justiz-Gesetze wie geplant noch in dieser Woche durch das Parlament gepeitscht, dann werde die Kommission in der nächsten Woche über ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 7 entscheiden. Im Sprachgebrauch Brüssels wird das die "nukleare Option" genannt, denn damit ist die schwerste Sanktion der EU verbunden - der Entzug der Stimmrechte eines Mitgliedslandes im europäischen Rat. "Wenn wir eine auf Regeln basierende Organisation sind, dann müssen wir auch bereit sein, Artikel 7 anzuwenden", erklärt Kommissar Timmermans.
Diese Strafmaßnahme für EU-Mitgliedsländer, die vom rechten demokratischen Weg abweichen, war 1999 mit dem Vertrag von Amsterdam mit Blick auf die anstehende Osterweiterung eingeführt worden. Die Befürchtung damals war, dass die früheren kommunistischen Staaten sich nicht an die demokratischen Regeln der EU halten könnten. Artikel 7 ist noch nie angewendet worden, scheint aber wie auf den Fall Polen zugeschnitten.
Die Anwendung läuft in einem zweistufigen Verfahren: Nach Art. 7.1 würde der europäische Rat zunächst eine formelle Mahnung aussprechen. Nach Art. 7.2 dann kann der Entzug der Stimmrechte des Mitgliedslandes beschlossen werden. Allerdings liegt die Schwelle dafür hoch: Zunächst muss die Zustimmung des Europaparlamentes eingeholt werden, dann braucht der Europäische Rat beim Gipfeltreffen Einstimmigkeit für seinen Beschluss. Ungarns Präsident Viktor Orban hatte schon früher angekündigt, er werde einem solchen Beschluss nicht zustimmen, weil er die Regierung in Warschau als politische Freunde betrachtet.
Ob die Drohung gegen die polnische Regierung also wahr gemacht werden kann, ist zweifelhaft. Aber mit der Androhung von Art. 7 hat die EU-Kommission ihre schwerste politische Waffe auf den Tisch gelegt. Die politische Botschaft ist deutlich. Jetzt ist der Ball im Feld der EU-Mitgliedsländer.
Sinnvolle Sanktion?
Das Europaparlament verurteilte bereits am Montag in einem offenen Brief an seinen Präsidenten mit großer Mehrheit die polnischen Gesetzesvorhaben. Die Fraktionsvorsitzenden von Christdemokraten (EVP), Sozialdemokraten (SP), Liberalen, Grünen und Linken kritisieren, dass damit die Unabhängigkeit der Justiz in Polen geschwächt werde. Die Vorhaben in Warschau "sind mit den EU-Verträgen und der Mitgliedschaft nicht vereinbar". Für die Europäischen Grünen erklärt der Abgeordnete Reinhold Bütikofer darüber hinaus: "Eine polnische Regierung, die zu Hause diktatorisch herrschen will, darf nach europäischem Recht kein Stimmrecht in europäischen Ministerräten haben. Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten dürfen keinen Zweifel daran lassen, dass sie diese Bestimmung (Art. 7) durchsetzen werden."
Marc Pierini von der Stiftung Carnegie Europe wiederum hat Zweifel, ob die rechtlichen Verfahren in der EU zu einem guten Ergebnis führen können. Populismus zu bekämpfen sei letztlich eine Aufgabe für die Bürger. "Was entscheidet, ist das Ergebnis an den Wahlurnen - solange Wahlen frei und fair sind". Das positive Ergebnis in den Niederlanden und in Frankreich sollte Politiker überall in Europa ermutigen, sich solchen negativen Entwicklungen entgegenzustellen. Allerdings: Nachdem zuerst in Ungarn und dann in Polen die Pressefreiheit stark eingeschränkt wurde, kann sich bei den nächsten Wahlen tatsächlich die Frage nach der "Freiheit" der Stimmabgabe stellen.
Eine weitere Möglichkeit wäre, Polen am Geldbeutel zu treffen und Warschau die europäischen Mittel zu kürzen. Dafür aber gibt es in der laufenden Haushaltsperiode keine Handhabe, das wäre erst mit dem nächsten EU-Etat möglich. EU-Justizkommissarin Vera Jourova erklärte in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung, die Einhaltung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien müsse Vorbedingung für die Auszahlung europäischer Gelder sein. Sie könne sich nicht vorstellen, dass etwa "deutsche oder schwedische Steuerzahler mit ihrem Geld die Errichtung einer Art von Diktatur in einem anderen EU-Land bezahlen wollten". Polen ist der größte Netto-Empfänger der Europäischen Union. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte beim letzten Gipfeltreffen in Brüssel bereits eine Mittelkürzung in der nächsten Haushaltsperiode als Möglichkeit bezeichnet.