Mit oder ohne Arafat
20. Juni 2003Jassir Arafat genießt zwar in breiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor hohes Ansehen - als Kämpfer und Symbolfigur für die palästinensische Sache. Aber die Abgeordneten des palästinensischen Legislativrats protestierten Mitte September derart heftig gegen Korruption und Reformunwillen in Arafats Autonomiebehörde, dass sich das Kabinett komplett zum Rücktritt gezwungen sah. Eindeutig eine Warnung für Arafat. Als Vorsitzender der Autonomieverwaltung steht er zwar über dem Kabinett und regiert dementsprechend weiter. Doch für Januar sind Neuwahlen nicht nur für das Parlament, sondern auch für das Präsidentenamt geplant.
Viele Palästinenser haben derzeit allerdings andere Sorgen als über demokratische Perspektiven für ihre Autonomiegebiete nachzudenken. Bedingt durch Misswirtschaft, Korruption und die Folgen die israelischen Besatzung ist die wirtschaftliche Lage in den Autonomiegebieten katastrophal.
Nach Angaben der UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) muss inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als umgerechnet zwei Euro pro Tag auskommen. Unterernährung ist vor allem bei Kindern weit verbreitet, die Arbeitslosenrate ist von ehedem 10 auf 34 Prozent gestiegen. In Gaza soll sie sogar bei 50 Prozent liegen. Zahlreiche Palästinenser können wegen Gebietssperrungen der israelischen Armee nicht mehr ihre Arbeitsplätze in Israel erreichen.
Demokratie: Kein Thema
Da stellt sich die Frage: Brauchen die Palästinenser zuerst eine Demokratisierung und dann - als Folge - den Frieden? Oder ist es umgekehrt: Sind Frieden und Unabhängigkeit die notwendigen Vorraussetzungen für eine ernsthafte Reform der palästinensischen Regierungsstrukturen? Letzteres sei richtig, meint Miriam Hexter, Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie sagt: "Im Moment glaube ich, dass Demokratie in den Palästinensergebieten kein wichtiges Gesprächsthema sein kann."
Die palästinensische Führung ist auf dem Weg zur langersehnten Eigenstaatlichkeit einen weiten Weg gegangen. Nach offizieller Abkehr vom jahrzehntelangen gewaltsamen Vorgehen erkannte Israel Arafats PLO erst 1993 offiziell als Gesprächspartner an. 1994 dann, nach Aushandlung des so genannten Gaza-Jericho Abkommens, kehrte Arafat samt Gefolge aus dem tunesischen Exil in die besetzten Gebiete zurück, gefolgt von den ersten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1996.
Diese Jahre markieren einen wichtigen Einschnitt in der palästinensischen Geschichte: Nach der ersten Intifada und mehr oder minder improvisierter Krisenverwaltung durch verschiedene Nichtregierungsorganisationen vor Ort entstand nun eine institutionalisierte Verwaltung in Form der neuen Autonomiebehörde - unter Führung von Arafat und anderen Exil-Palästinensern.
Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Entwicklung war dies eher ein Rückschritt, meint Hassasian. Die Nichtregierungsorganisationen seien komplett von den neu geschaffenen Ministerien überschattet worden. Die Autonomiebehörde wird hauptsächlich von der alten Führungsgarde um Arafat kontrolliert, die jahrzehntelang aus dem Exil heraus verhandelte oder Anschläge plante. Vor allem jüngere palästinensische Kritiker aus dem Umfeld der ersten Intifada bemängeln, Arafat und seinen Getreuen mangele es an Nähe zu den Menschen.
Korruption, Verschwendung
Zusätzlich werden Korruption sowie Verschwendung öffentlicher Gelder immer offensichtlicher. Bereits 1997 kam ein parlamentarischer Bericht zu dem Schluss, dass fast 40 Prozent des jährlichen Etats der Autonomiebehörde - überwiegend Spenden und Auslandshilfen - in dunklen Kanälen verloren gingen. Zudem wird Arafat vorgeworfen, mit einem Netzwerk aus mehr als einem halben Dutzend Polizeibehörden und Geheimdiensten den Rahmen für einen Polizeistaat zu legen.
Noch bleibt Arafat unangefochtene Symbolfigur der palästinensischen Widerstandsbewegung. Doch es warten große Herausforderungen, vor allem die Gründung eines eigenen Staates. Egal ob Arafat bei den Wahlen im Januar wiedergewählt wird, ob er bewusst zugunsten eines anderen Politikers in den Hintergrund tritt, um dort im Verborgenen weiter die Fäden zu ziehen, oder ob er tatsächlich durch einen neuen starken palästinensischen Führer ersetzt wird: Die Demokratisierung in den Palästinensergebieten wird ein langwieriger Prozess werden.