Mit Viralvideos gegen Wahlboykott
20. Februar 2018Ein russisches Ehepaar im Schlafzimmer. Sie: "Ich hab den Wecker auf 9.00 Uhr gestellt." Er: "Toll und jetzt schalte ihn wieder aus, morgen ist Sonntag". "Wir haben viel zu tun, wir müssen noch wählen gehen", gibt sie nicht auf. "Schaut mal, sie will wählen gehen. Als würde man es ohne dich nicht schaffen", spottet der Mann und schläft ein. Und hat eine Art russischen Alptraum. Zunächst klingelt an der Tür ein Armeeoffizier, der den verwirrten Ehemann, gespielt von einem bekannten Schauspieler, einberufen will. "Ich bin doch 52", protestiert der und hört erstaunt die Erklärung: "Der neue Präsident hat die Altersgrenze für die Wehrpflicht auf 60 Jahre angehoben." Der Offizier wird von einem Schwarzen begleitet, ein Hinweis darauf, dass in der russischen Armee offenbar auch Migranten dienen sollen.
In der Küche trifft der Mann einen stark karikiert dargestellten Schwulen. Nach neuen Gesetzen müsse man Schwule, die keinen Partner hätten, bei sich aufnehmen, erklärt die Ehefrau. Der Sohn bittet den Vater um Millionen für "Sicherheit in der Schule" und - als wäre das alles nicht schlimm genug - auch der Zugang zur Toilette ist jetzt eingeschränkt. Der Ehemann wacht erschrocken auf und will sofort zur Wahl gehen. "Steh auf", ruft er seine Ehefrau. "Sonst ist es zu spät!"
Sorge um Wahlbeteiligung
Das rund dreiminütige Video ist in diesen Tagen ein Renner in sozialen Netzwerken in Russland. Es gibt Lob für Kreativität und Kritik wegen Homophobie. Wer genau es gemacht hat, war zunächst unklar. Was nach professionell gemachtem und gewollt politisch unkorrektem Klamauk aussieht, hat jedenfalls eine ernste Botschaft: Wählen gehen! Bei der kommenden Präsidentenwahl am 18. März scheint man in Russland um eine höhere Wahlbeteiligung bemüht.
Ein möglicher Hintergrund: Bei den Parlamentswahlen 2016 sank die Wahlbeteiligung dramatisch und erreichte nur 48 Prozent. Vor allem in der Millionenmetropole Moskau war das Niveau niedrig: 35 Prozent. Da die Präsidentenwahl keine Spannung verspricht - ein Sieg des Amtsinhabers Wladimir Putin gilt als sicher - könnten viele zu Hause bleiben. Angestrebt wird offenbar ein haushoher Sieg, deshalb müsse man die Wahlbeteiligung steigern, so ein mögliches Kalkül.
Nawalnys Boykottaufruf
Außerdem hat der Oppositionsführer Alexej Nawalny zu einem Wahlboykott aufgerufen. Der 41-jährige prominente Kämpfer gegen Korruption wollte selbst antreten, wurde jedoch aus einem formalen Grund nicht zugelassen. Nawalny wurde in einem umstrittenen Prozess wegen eines Wirtschaftsverbrechens zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Er selbst sieht dahinter politische Gründe, die russische Justiz bestreitet das.
Nawalnys Anhänger sind überwiegend junge Russen. Sie folgen ihm nicht nur in sozialen Netzwerken, sondern sie gehen auch auf die Straße und protestieren. 2017 waren besonders viele Schüler und Studenten dabei.
Schüler und Studenten auch als Zielgruppe
Sie sind möglicherweise die Zielgruppe der Kampagne, die mit viralen Videos versucht, die Wahlbeteiligung zu steigern. Normalerweise gehen die jungen Russen, wie auch junge Bürger in anderen Ländern, selten wählen.
Ein weiteres Video zeigt eine junge schwangere Frau, die mit einem Taxi eine temporeiche und verzweifelte Fahrt erlebt. Doch sie beeilt sich nicht in den Kreißsaal, sondern zu einem Wahllokal. In einem anderen Film wird ein junges Pärchen beim leidenschaftlichen Knutschen gezeigt. Bevor es zur Sache geht, fragt das Mädchen, ob der Junge volljährig sei. "Klar, bin schon erwachsen", antwortet er. Doch als die junge Dame erfährt, dass ihre neue Bekanntschaft noch nicht gewählt hat, dreht sie sich enttäuscht um und sagt beim Weggehen: "Erwachsen bist du nicht." Dieses Video wurde auf YouTube seit seiner Veröffentlichung am 14. Februar mehr als 700.000 aufgerufen. Produziert wurde es vom Filmstudio ROSVIDEO, zu dessen Kunden unter anderem Staatsfirmen wie Gazprom und Ministerien zählen.
"Der Kreml möchte die Menschen motivieren, wählen zu gehen, nicht weil er eine Niederlage fürchtet (es gibt niemanden, der eine Niederlage herbeiführen könnte), sondern weil er eine Entlarvung des Mythos über Putins breite Unterstützung im Falle einer niedrigen Wahlbeteiligung fürchtet“, meint der russische Publizist Konstantin Eggert. Zunächst habe man die politische Konkurrenz ausgeschaltet und versuche jetzt, mit Ängsten eine Konsolidierung um Putin zu erreichen.