MoMA zeigt Amateurfotografien aus Brasilien
8. Mai 2021Gertrudes Altschul floh 1939 vor den Nazis aus ihrer Heimat. Die 1904 in Deutschland geborene jüdische Fotografin emigrierte nach Brasilien in die Metropole São Paulo, wo sie mit ihrem Mann einen Blumenladen eröffnete. 1952 meldete sich Altschul zu einem Fotografie-Grundkurs an und wurde Teil eines Vereins namens Foto Cine Clube Bandeirante (FCCB).
Gemeinsam mit Geschäftsleuten, Buchhaltern, Journalisten und Ingenieuren, die Fotografie alle als Hobby betrieben, unternahm Gertrudes Altschul fotografische Exkursionen rund um das damals schnell wachsende São Paulo. Jedes Jahr veranstaltete der Verein internationale Fotosalons, auf denen auch Altschuls Arbeiten gezeigt wurden, die bald als eine der ersten Fotografinnen in Brasilien Anerkennung für ihre Arbeit erhielt.
Erste Hommage an Brasiliens modernistische Fotografie
Vom 8. Mai bis zum 26. September wird ein Teil ihres Werkes neben Fotografen wie Geraldo de Barros, Thomaz Farkas, José Yalenti und German Lorca im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) in einer Ausstellung mit dem Titel "Fotoclubismo: Brazilian Modernist Photography, 1946-1964" zu sehen sein.
Ein Foto von Altschul ziert das Cover des Ausstellungskatalogs: ein brasilianisches Papayablatt. Es liefert eine symbolische Verbindung zwischen dem Beruf im Blumenladen und ihrem Hobby als Amateurfotografin.
"Fotoclubismo" ist die erste große internationale Museumsausstellung, die brasilianische modernistische Fotografie außerhalb Brasiliens präsentiert. Sie zeigt die kreativen Leistungen der Mitglieder des FCCB nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1946 bis 1964 - eine Zeit, die als Höhepunkt des Schaffens der Amateurgruppe gilt.
Die Ausstellung und der begleitende Katalog wurden von Sarah Meister kuratiert. Sie erinnert sich, wie sie 2015 Altschuls und andere Arbeiten des Fotoclubs bei ihrer dritten Reise nach São Paulo entdeckte. "Das ist eine Ausstellung und ein Buch, das ich machen muss", habe sie damals gedacht, sagt Meister im Gespräch mit der DW.
Die ersten "Straßenfotografen"
Die Mitglieder des Fotoclubs "erfanden eine neue Art des Fotografierens, die sich von den traditionellen Methoden der Zeit distanzierte", erklärt der heutige Präsident des FCCB, José Luiz Pedro, der DW. "Sie waren das, was wir heute 'Straßenfotografen' nennen: Sie gingen auf die Straßen von São Paulo und hielten die Stadt in Bildern fest."
Die Gruppe spielte in der zunehmend industrialisierten städtischen Umgebung mit den Möglichkeiten des Lichts und den geometrischen Formen. Ein Teil der Gruppe schlug einen abstrakteren Weg ein. "Es gibt einen Bruch mit dem Piktorialismus - der Fotografie, die die Malerei imitierte", erklärt Pedro.
Zwischen den späten 1940er und den 1970er Jahren spielte der FCCB eine bedeutende Rolle bei der Förderung brasilianischer Fotografen. Seine Mitglieder wurden auf sechs Kontinenten mit Preisen ausgezeichnet, aber ihr Erbe wurde von nordamerikanischen und europäischen Institutionen nicht anerkannt. Es sei eine Aufgabe der Ausstellung, "die Frage zu klären, warum dieses außergewöhnliche Kapitel der Fotogeschichte im Wesentlichen unbekannt ist", sagt Kuratorin Sarah Meister.
Verborgene Perlen aufdecken
Sarah Meister und José Luiz Pedro haben zwei Gründe für die ausgebliebene Anerkennung der Mitglieder des Fotoclubs ausgemacht: historische Vorurteile gegenüber Amateurpraktiken und die sogenannte globale Peripherie. "Brasilien ist von vielen künstlerischen Bewegungen ausgeschlossen, und das ist bei der Fotografie nicht anders", sagt FCCB-Präsident Pedro.
Die Ausstellung im MoMA zeigt nicht nur bemerkenswerte Werke, sondern ist auch eine Einladung, sich mit ästhetischen Vorurteilen auseinanderzusetzen und die Haltung gegenüber Amateuren zu überdenken. "50 Jahre lang war diese Geschichte in den Archiven des Clubs verborgen, und jetzt wird die Relevanz dieser Fotografen endlich von großen Museen und Galerien anerkannt", sagt José Luiz Pedro erfreut.
Sarah Meister wechselt nach mehr als einem Jahrzehnt als Fotokuratorin des MoMA demnächst in die Leitung der Non-Profit-Organisation Aperture Foundation. Ihre letzte MoMA-Ausstellung "Fotoclubismo" sieht sie als Geschenk - wegen der darin enthaltenen kritischen Auseinandersetzung.
"Ich bin besonders aufgeregt, nicht nur weil ich weiß, dass die Arbeit beim Publikum Anklang finden wird", sagt sie. Die Ausstellung biete die Gelegenheit, sich mit vernachlässigter Kunst zu befassen: "Was können wir als Kuratoren oder als Museen noch tun, um andere Elemente unserer Geschichte zu reflektieren und zurückzugewinnen, die übersehen und vernachlässigt wurden?"
Deutsche Adaption: Torsten Landsberg