Genozid-Leugnung gefährdet Reformen in Montenegro
14. April 2021Die Leugnung des Holocaust ist in Europa geächtet - über kaum eine andere politische Frage besteht auf dem Kontinent ein so breiter Konsens. Auf dem Westbalkan dagegen ist Leugnen oder doch Relativieren des Massakers von Srebrenica weit verbreitet. In Serbien und in der Republika Srpska, dem serbisch dominierten Landesteil Bosnien und Herzegowinas, ist die Behauptung, das schwerste Kriegsverbrechen in Europa nach 1945 sei kein Völkermord gewesen, gar eine Art inoffizielle Staatsdoktrin.
Einen Aufschrei löst das international nur selten und regional praktisch nie aus. Dabei hat der Internationale Strafgerichtshof der UN für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) Planung und Ausführung der Ermordung von über 8000 muslimischen Bosniaken in der Gegend um die ostbosnische Kleinstadt Srebrenica im Juli 1995 akribisch dokumentiert - und eindeutig als Genozid eingestuft.
Jetzt hat die Leugnung des Völkermordes von Srebrenica auf dem Westbalkan erstmals eine schwere politische Krise ausgelöst - in Montenegro, dem kleinsten Land der Region. Dessen Minister für Justiz, Minderheiten und Menschenrechte, Vladimir Leposavić, sagte Ende März im Parlament in der Hauptstadt Podgorica, er sei bereit, anzuerkennen, dass in Srebrenica ein Völkermord stattgefunden habe - wenn das "eindeutig festgestellt" worden sei. Dem ICTY sprach er die Legitimation ab - wegen angeblicher Ignoranz des Kriegsverbrechertribunals gegenüber Verbrechen an Serben.
Die Aussagen des Justizministers stellen die erst seit vier Monaten amtierende Reformregierung vor ihre erste Zerreißprobe. Die Empörung bei einigen Koalitionspartnern, den Oppositionsparteien sowie in Teilen der montenegrinischen Öffentlichkeit ist groß. Scharfe Kritik kam auch von ausländischen Diplomaten. Regierungschef Zdravko Krivokapić forderte Leposavić ultimativ zum Rücktritt auf - doch den verweigerte der Minister. Nun muss das Parlament über seine Entlassung entscheiden. Das Problem: Dafür gibt es in der Koalition keine Mehrheit.
Historischer Machtwechsel
Die durch Leposavić ausgelöste politische Krise kommt nur wenige Monate nach einem historischen Machtwechsel: Im Herbst 2020 hatte eine Reformkoalition, deren Bandbreite von proserbischen Nationalisten und EU-Skeptikern bis hin zu proeuropäischen, grünen Sozialliberalen reicht, nach drei Jahrzehnten Montenegros Langzeitherrscher und derzeitigen Staatspräsidenten Milo Djukanović und seine Demokratische Partei der Sozialisten (DPS) von der Macht abgelöst.
Seit Dezember 2020 ist eine Expertenregierung unter dem Maschinenbau-Professor Krivokapić im Amt, die von dieser Koalition getragen wird. Premier und Kabinett haben sich nichts weniger vorgenommen, als Montenegro zu demokratisieren, für Rechtsstaatlichkeit zu sorgen - und als erstes Land des westlichen Balkans den EU-Beitritt zu schaffen.
Djukanovićs Traum-Szenario
Der Krach um Leposavićs Srebrenica-Leugnung ist genau das Szenario, auf das Langzeitherrscher Djukanović und seine Partei gewartet haben. Ende der 1990er hatten sie Montenegro, das damals mit Serbien die Bundesrepublik Jugoslawien bildete, Stück für Stück auf einen eigenständigen Kurs gebracht. 2006 erklärte das Land seine Unabhängigkeit.
Der Weg dahin war auch mit einer zumindest nominellen Distanzierung von Kriegsverbrechen aus den Jugoslawienkriegen 1991-99 verbunden. So verurteilte das montenegrinische Parlament 2009 in einer Resolution das Massaker von Srebrenica - allerdings ohne dabei explizit den Begriff "Völkermord" zu benutzen. Auch haben Djukanović und seine Partei die Beteiligung montenegrinischer Soldaten an der Bombardierung der kroatischen Adriastadt Dubrovnik nie glaubwürdig bereut.
Ein polarisiertes Land
Die Souveränitäts- und Identitätspolitik der Ära Djukanović polarisiert Montenegro bis heute. Zwar stellt kaum noch jemand ernsthaft die Unabhängigkeit in Frage - aber nur knapp die Hälfte der Menschen im Land deklariert sich als montenegrinisch, etwa ein Drittel sieht sich als serbisch. Viele von ihnen orientieren sich politisch und kulturell an Belgrad. Dazu gehört auch, die offiziellen serbischen Narrative über Srebrenica oder die Illegitimität des UN-Kriegsverbrechertribunals zu vertreten.
Auf solche Wähler stützen sich mehrere der Parteien der Reformkoalition, unter anderem das rechtskonservative, proserbische Bündnis Demokratische Front (DF). Sie ist strikt gegen die parlamentarische Abberufung von Leposavić und hat sein Verbleiben in der Regierung zur Bedingung für das Überleben der Koalition gemacht.
Regierung "im Minenfeld"
Ob der Justizminister, der sich ausdrücklich als Serbe empfindet, seine Srebrenica-Erklärung gezielt oder nur unüberlegt abgab, ist bisher unklar. Premier Krivokapić sprach von einem Versuch, "die Regierung von innen zu stürzen" - ein Fingerzeig auf einige rechtsnationalistische, proserbische Koalitionspartner. Fest steht, dass Leposavićs Worte das Land "in ein Minenfeld" geführt haben, wie die Kolumnistin Ratka Jovanović-Vukotić in der Tageszeitung "Vijesti" (Nachrichten) schrieb. Denn in der aktuellen Srebrenica-Kontroverse bündeln sich alle traditionellen Schlüsselfragen der montenegrinischen Politik: der Umgang mit der Kriegsvergangenheit, das Verhältnis zu Serbien und die Frage der montenegrinischen Identität.
Derzeit ist völlig unklar, ob der Premier Krivokapić, seine Minister und die Parteien der Reformkoalition einen Ausweg aus dem Dilemma finden. Dabei ist die Srebrenica-Kontroverse nicht ihr einziges Dilemma. Eine geplante Novelle des Staatsbürgerschaftsgesetzes führte zu Protesten und Straßenblockaden so genannter "patriotischer Kräfte", also Anhängern Djukanovićs und seiner Partei. Sie stilisieren die Gesetzesnovelle zur Bedrohung der montenegrinischen Souveränität.
Zudem steht Montenegro finanziell mit dem Rücken zur Wand, weil es sich mit einem chinesischen Milliardenkredit überschuldet hat. Die EU lehnte ein finanzielles Hilfeersuchen der Regierung in Podgorica am 13.04.2021 ab.
Zumindest eine gute Seite kann der Vijesti-Autor Željko Ivanović der Srebrenica-Kontroverse abgewinnen. "Bravo an den Premier", schreibt er, "denn er ist nicht nur in Montenegro, sondern auf dem gesamten Westbalkan, der erste, der ein Mitglied seines Kabinetts wegen der Relativierung eines derartigen Verbrechens sanktioniert hat."