Mordanklage nach 50 Jahren gegen früheren Stasi-Mitarbeiter
14. März 2024Der Prozess vor dem Kriminalgericht Moabit hat für die Bundesrepublik zeitgeschichtliche Bedeutung. Entsprechend groß ist der Andrang vor dem Landgericht. Auf der Anklagebank sitzt ein heute 80-jähriger Leipziger. Der ehemalige Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes Staatssicherheit (Stasi) soll am 29. März 1974 den damals 38-jährigen Polen Czesław Kukuczka von hinten erschossen haben - bei dessen Ausreise am belebtesten Grenzübergang zwischen Ost und West, dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße.
Der Angeklagte äußerte sich zu Prozessbeginn nicht. Seine Verteidigerin erklärte: "Ich darf mitteilen, dass mein Mandant den Tatvorwurf bestreitet."
Was ist passiert im März 1974?
Die Schilderungen der Anklage lesen sich wie ein Krimi. Czesław Kukuczka hatte im Frühjahr 1974 versucht, seine Ausreise von Ost- nach West-Berlin zu erzwingen. Dazu drohte er mit einer Bombenexplosion in der polnischen Botschaft der DDR. Bei der dort präsentierten Bombe handelte es sich jedoch um eine Attrappe.
Kurz vor Erreichen West-Berlins wurde Kukuczka in den Tunneln des Grenzübergangs Friedrichstraße im Zentrum der heutigen Hauptstadt durch einen Schuss in den Rücken getötet.
Warum kommt es erst jetzt zum Prozess?
Nach der Wiedervereinigung konnte zwar zunächst der Name des Opfers recherchiert und später der Obduktionsbericht gefunden werden, ein Tatverdächtiger wurde jedoch nicht ermittelt. Erst 2016 führten Unterlagen aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv auf die Spur des Angeklagten.
Ging die Staatsanwaltschaft zunächst von Totschlag aus, lautet die Anklage nach neuen Hinweisen nun auf Mord. Demnach schilderten Zeugen, dass der Pole am Tattag bereits zwei der drei Kontrollpunkte am "Tränenpalast" (umgangssprachliche Bezeichnung für den Grenzübergang "Bahnhof Friedrichstraße") ungehindert passiert hatte, als der tödliche Schuss fiel. Der Pole sei sich sicher gewesen, sein Ziel erreicht zu haben. Genau in diesem Moment der Ahnungslosigkeit sei der Schuss aus zwei Metern Entfernung in seinen Rücken gefallen.
Wie war damals die Situation an der Grenze?
Die Situation an der mit Sperranlagen und Todesstreifen gesicherten Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, insbesondere zwischen Ost- und West-Berlin, war während des Kalten Krieges ständig angespannt. In Berlin verhinderte eine Mauer die Flucht von Ost- nach West-Berlin.
Die eigentliche Mauer als letztes Hindernis vor West-Berliner Gebiet war ab den 1970er Jahren über 3,60 Meter hoch - ihre Überwindung galt daher ohne Hilfsmittel als unmöglich. Ergänzt wurde die Mauer durch ein System von Verteidigungs- und Überwachungsanlagen mit Wachtürmen, Patrouillenstreifen, Minenfeldern und Selbstschussanlagen. Trotzdem gelang bis zum Fall der Mauer 1989 mehr als 5000 Menschen die Flucht. Fast 300 Menschen kamen jedoch bei Fluchtversuchen ums Leben.
Für die erlaubten Reisen zwischen Ost und West gab es nur wenige offizielle Grenzübergänge zwischen den beiden Teilen der heutigen Hauptstadt. Der Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße war neben dem "Checkpoint Charlie" der einzige Grenzübergang für Ausländer, die nicht zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs gehörten. Menschen aus den Ostblockstaaten besaßen jedoch keine Reisefreiheit und konnten die Grenze nur in Ausnahmefällen passieren.
Wie viele Menschen sind wegen des Grenzregimes verurteilt worden?
Die juristische Aufarbeitung der tödlichen Schüsse an der Grenze zwischen Ost und West erfolgte in den sogenannten Mauerschützenprozessen zwischen 1991 und 2014. In 246 Verfahren wurden 126 Personen rechtskräftig verurteilt - darunter sieben Mitglieder des "Nationalen Verteidigungsrates" und des "Politbüros", also des höchsten politischen Gremiums der DDR.
Zu den bekanntesten Angeklagten gehörten der ehemalige Staatsratsvorsitzende Egon Krenz und der frühere DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler. Beide wurden wegen Totschlags zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Viele Beobachter waren allerdings der Ansicht, das die Urteile zu mild ausgefallen sind.
Welche Strafe droht dem mutmaßlichen Täter?
Mord wird grundsätzlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet. Ein halbes Jahrhundert nach der Tat wird sich die Beweisführung allerdings schwierig gestalten. "Vieles wird auf der Würdigung von Dokumenten beruhen", sagte der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka zum Prozessauftakt. Dabei geht es unter anderem um einen vom damaligen Stasi-Minister Erich Mielke unterzeichneten Befehl, wonach Stasi-Mitarbeiter im Zusammenhang mit dem Mord belohnt werden sollten. Der heute 80-Jährige erhielt demnach eine Medaille in Bronze.
Mit einem Urteil wird Ende Mai gerechnet. Der Prozess, in dem die drei Kinder Kukuczaks als Nebenkläger auftreten, wird als "zeitgeschichtliches Ereignis" aufgezeichnet und die Tonaufnahmen dem Berliner Landesarchiv zur Verfügung gestellt. Den Auftakt des Verfahrens verfolgten auch zwei Staatsanwälte aus Polen sowie ein Historiker, der an der Aufarbeitung des Falles beteiligt war.