Motive palästinensischen Terrors
29. September 2005Was veranlasst Palästinenser, ihren eigenen Tod in Kauf zu nehmen, um Israelis, darunter auch Zivilisten, zu töten? Ist ihr Terror ein Akt der Verzweiflung angesichts der israelischen Besatzungspolitik ist? Oder ein Zeichen von Hoffnungslosigkeit in den abgeriegelten Palästinensergebieten? Mit diesen Fragen beschäftigt sich zeit zehn Jahren die israelische Kriminologin Anat Berko.
Für ihre Dissertation interviewte sie in einem israelischen Gefängnis Dutzende gescheiterte Attentäter und ihre Hintermänner. "Die meisten Selbstmordattentäter, die ich befragt habe, waren nicht bedürftiger als andere Palästinenser", erzählt sie. "Ein 16-Jähriger sagt, er würde seine Eltern verraten, um die nach der Überlieferung versprochenen Jungfrauen im Himmel zu treffen. Im Paradies fließt Bier in den Flüssen und all das wartet auf ihn, alles, was in dieser Welt verboten ist: allem voran Sex und Alkohol, aber auch die Begegnung mit Allah und seinem Propheten Mohammed."
Zeugnis der Feigheit
Anat Berkos Familie stammt aus dem Irak. Sie spricht Arabisch und ist mit der arabischen Mentalität vertraut. Das erleichterte ihr den Zugang zu den Palästinensern, die an Terroranschlägen beteiligt waren - als lebende Bomben oder als Hintermänner. Berko bekleidete den Rang eines Obersten in der israelischen Armee, ist selbstbewusst, gelassen und offen, was ihr in den Gesprächen oft weiterhilft. An eine Begegnung im Hochsicherheitsgefängnis erinnert sie sich heute noch schaudernd. Berko war allein mit einem Mann ohne Handschellen, der sich in einem vollen Bus in Jerusalem in die Luft sprengen wollte, aber wegen einer technischen Panne scheiterte.
"Ich saß am Tisch", erzählt sie, "als er hereinkam, zwei Meter groß und sehr, sehr feindselig. Vor mir stand ein strenger bärtiger Moslem mit einer Kopfbedeckung und in einem weißen Gewand. Ich konnte seine Aggression physisch spüren, so als ob er mich gleich überfallen werde. Hinter mir lag ein herausgerissenes Holzgeländer. Er blickte ständig dorthin. Plötzlich sagte er voller Wut: 'Wenn ich Dir damit auf den Kopf schlagen würde, wie würdest Du dich fühlen?' Ich blieb gelassen und fragte: 'Habe ich dir etwas getan? Ich versuche doch nur, dein Leben zu verstehen und dich kennen zu lernen.' Ich sah ihn an und strahlte keine Angst aus. Die Luft ging langsam aus ihm heraus. Sein Ton wurde weicher, als ob er sich schämte, dass er mich mit Gewalt bedroht hatte, die eigentlich von Feigheit zeugt."
Selbstmord verboten
1995 suchte Anat Berko ein Thema für ihre Doktorarbeit. Als während des Oslo-Friedensprozesses immer mehr Palästinenser die Verhandlungen durch Selbstmordanschläge zu torpedieren versuchten, beschloss sie, die Männer hinter den Anschlägen zu analysieren. Die Hintermänner interessierten sie viel mehr als die Selbstmordattentäter, die zwar die palästinensischen Medien als Märtyrer feiern, die für Berko aber lediglich Marionetten sind. Berkos Studie "Auf dem Weg ins Paradies - die Welt der Selbstmordattentäter und ihre Entsender" ist bisher nur auf Hebräisch erschienen. Eine Übersetzung ins Englische wird zur Zeit vorbereitet.
Der Selbstmord ist im Islam verboten, und die palästinensische Gesellschaft ist gläubig. Und doch werden die Selbstmordattentäter als Helden des Heiligen Kriegs gefeiert - in Moscheen, Schulen und Massenmedien. Ihre Familien werden großzügig finanziell unterstützt. Das motiviert vor allem Palästinenser, die am Rande der Gesellschaft leben, als gescheitert gelten und unter dem starken Einfluss eines charismatischen Aktivisten stehen.
Männlichkeit, Seitensprünge
Durch den Freitod wollen heranwachsende Selbstmordattentäter ihre Männlichkeit beweisen. In den letzten drei Jahren opferten sich auch immer mehr Frauen als lebende Bomben. Sie glaubten, sich und ihre Familien nur durch einen Terrorakt vor der Schande eines Seitensprungs oder eines unehelichen Kindes retten zu können.
Die Symbolfigur für die Hamas-Attentäter war bis 2004 der gelähmte Scheich Achmad Jassin. Das Gespräch mit ihm kostete Berko große Überwindung, denn für sie handelte es sich um einen Massenmörder, nur mit Osama Bin Laden vergleichbar. Dennoch saß sie eines Tages vor ihm, fünf Stunden lang.
Vergessene Selbstmörder
"Was mich erstaunte, war, dass er sich die Namen der Märtyrer, der Schahids, nicht merkte. Wie konnte er die Namen der palästinensischen Helden vergessen, zumal damals deren Zahl sehr gering war? Er erklärte mir, dass der Schahid nicht stirbt, sondern bei Gott weiter in Ruhe lebt. Dann fragte ich ihn, ob er einen seiner Söhne in einem israelischen Bus in die Luft gehen lassen würde. Er sagte, dass seine Söhne kein Interesse daran hätten."
Berko setzt ihre Arbeit fort in der Hoffnung, dass sie eines Tages nur noch Geschichte ist. Damit der Terror verschwinde, müsse die Dämonisierung der Juden in der palästinensischen Gesellschaft aufhören. Zugleich müssten hochrangige Prediger ein religiöses Urteil gegen Selbstmordanschläge aussprechen und klar machen, dass Mörder zur Hölle gehen - nicht ins Paradies.