TikTok-Museen: Ist das Kunst oder wisch ich weg?
2. August 2020Für die Kurzvideo-Plattform TikTok ist die Corona-Pandemie gewissermaßen ein Geschenk. Während weltweit der soziale Kontakt im öffentlichen Raum minimiert werden muss, suchen mehr und mehr Nutzer online Ersatz für den fehlenden sozialen Austausch - oft wählen sie dafür TikTok. Trotz Kritik an den Geschäftspraktiken ist sie aktuell die am meisten heruntergeladene App überhaupt, wie die Analyseplattform Sensor Tower berichtet. Schon im April sei die Marke von zwei Milliarden weltweiten Downloads überschritten worden.
Ein Umstand, der auch in der Museumswelt registriert wurde. Die Folge: Eine Handvoll berühmter Museen eröffnete in den vergangenen Monaten eigene Kanäle beim chinesischen Social-Media-Dienst, der seine Anfänge als Plattform für Lippensynchronisations- und Tanzvideos hatte. Obwohl die Nutzer sich in ihren Beiträgen mittlerweile vermehrt politischen und gesellschaftlichen Themen zuwenden, stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob gerade TikTok eine sinnvolle Erweiterung des digitalen Angebots von Museen sein kann.
Sexzombies, Killermaschinen, randalierende Elefanten
"Das Wichtigste ist, dass man direkt in den ersten Sekunden etwas platziert, das die Leute animiert, bei der Sache zu bleiben", erklärt Marc Jerusel. Er ist Social Media-Manager beim Museum für Naturkunde Berlin und verantwortet dort den TikTok-Kanal, auf dem am 6. Mai die ersten Videos hochgeladen wurden. Darin erzählen Museumsführer von randalierenden Elefanten, der Anglerfisch wird zum "Sexzombie" und süße Eulen entpuppen sich als perfekte "Killer-Maschinen". Was offensichtlich gut ankommt: Nach knapp drei Monaten erreicht der Kanal bereits 18.000 Abonnenten, über 220.000 Mal wurde auf "Like" geklickt.
Und das mit relativ einfachen Mitteln. Das Museum produziert die Videos erst und passt sie dann den jeweiligen Social Media-Kanälen an. Bei TikTok heißt das: Knallige Musik drunter, Effekte drauf, fertig ist der Kurzbeitrag. "Der Aufwand ist ehrlich gesagt relativ gering", erklärt Jerusel, "vor allem, wenn man ihn in Relation zur Reichweite und Interaktion setzt." Im Gegensatz zu anderen Plattformen bekomme man auf TikTok viel mehr Feedback, die Nutzer seien deutlich aktiver. "Ich sehe hier auch eine Chance für Museen und die Wissenschaftskommunikation."
Ein weiterer Aspekt: Während das Museum für Naturkunde hauptsächlich junge Erwachsene anspricht, sind 69 Prozent der TikTok-Nutzer unter 24 Jahre alt. Der Kanal kann also als strategische Investition in die Zukunft gewertet werden. Nun ist das Naturkundemuseum natürlich ein Museum, dessen Ausstellungsobjekte mit einer sehr eindeutigen, oft kuriosen Geschichte verbunden sind. Ein randalierender Elefant lässt sich im Zweifelsfall leichter greifen als ein barockes Gemälde.
"Kunst für alle zugänglich machen"
Ortswechsel nach Amsterdam. Das dort ansässige Rijksmuseum kann nicht wirklich behaupten, dass es Probleme mit ausbleibenden Besuchern hat: Mit 2,7 Millionen Besuchern stellte das Kunstmuseum 2019 einen internen Rekord auf. Und auch digital ist man in Amsterdam schon seit längerem hervorragend aufgestellt: Auf Twitter folgen über 245.000 Benutzer dem Museum, der Instagram-Kanal hat eine halbe Million Abonnenten.
Es ist also nicht verwunderlich, dass das Museum seit dem 2. April auch auf TikTok ist. Auf dem Kanal werden Funfacts zu den Kunstwerken präsentiert, Bilder werden im Rahmen der bei TikTok beliebten Challenges nachgestellt, oder Live-Führungen angeboten. "Für uns als Museum ist es wichtig, unsere Sammlung für alle zugänglich zu machen", erklärt Nanet Beumer, die beim Rijksmuseum die Abteilung "Digitales" leitet. Bei den explodierenden Nutzerzahlen biete sich TikTok mit seiner Reichweite natürlich an.
Aber Beumer führt noch einen anderen Vorteil der App an: "TikTok ist eine Plattform, die sich durch die vielen Content Creator auszeichnet." Übersetzt bedeutet das: Die App ist sehr einfach zu bedienen, Bild- und Videobearbeitung findet, anders als bei Instagram, komplett in der App statt. Das sorgt dafür, dass viele Nutzer aktiv Videos erstellen. Und genau das, sagt Beumer, ließe sich museumspädagogisch nutzen. "Gewöhnlich haben wir viele Schulklassen zu Besuch. Wir wollen versuchen, ob wir über TikTok nicht auch im Museum ganz anders mit den jüngeren Besuchern interagieren können, indem sie zum Beispiel Beiträge für unseren TikTok-Kanal erstellen dürfen."
Mit Humor die junge Generation anlocken
Doch kann das gut gehen? Wenn Museen - traditionell bildungsbürgerliche Festungen der Wissenswahrung und -vermittlung - plötzlich offen in das flüchtige Geschäft der Aufmerksamkeitszirkulation eintreten, ist die empörte Reaktion der eher konservativen Kulturelite vorprogrammiert.
Eike Schmidt, der seit 2015 die Uffizien in Florenz leitet, möchte das Museum auch für junge Besucher attraktiv machen und greift dafür ebenfalls zu TikTok: "Es geht darum, dass wir Teil einer Konversation werden", erklärt Schmidt die TikTok-Strategie seines Museums. "Fernsehserien oder Netflix stellen aktuell das kollektive Bildmaterial, das die Jugendlichen in ihre Köpfe aufnehmen. Aber unsere großartigen Kunstwerke, die unserer Meinung nach höchste Relevanz für die Gegenwart und auch für die Zukunft haben, die kommen meistens gar nicht in die Köpfe dieser Generation hinein."
Die Antwort der Uffizien auf die bisher mangelnde Erreichbarkeit der Jugend ist ebenso gewagt, wie sie erfolgreich ist: Da kommt etwa Sandro Botticellis Venus in das Bild "Primavera" (Frühling) gelaufen und herrscht entrüstet die anwesenden mythologischen Gestalten an, den Mindestabstand einzuhalten. Francesco Petrarca baggert zu Balkanpop die Muse Laura unangenehm aufdringlich an (mit einer Bildunterschrift, die da lautet: "Als Petrarca Laura umwarb: Wie es wirklich lief"). Und Caravaggios "Medusa" trägt Mundschutz und versteinert ein durch die Uffizien fliegendes Coronavirus, begleitet von dem viral gegangenen "Coronavirus"-Schrei der Rapperin Cardi B. Jedes einzelne der Beispiele ist, gemessen an dem Renommee und der Tradition des Museums und der Objekte, ein offener Tabubruch.
Die Videos würden dabei helfen, die Schwellenangst vor dem Museumsbesuch zu nehmen, sagt Schmidt. "Der Grund, warum viele junge Menschen heute nicht mehr in Museen gehen, liegt auch darin, dass sie zu sehr als etwas erscheinen, was im eigenen Leben nicht relevant ist."
Das Beispiel des Petrarca-Videos verdeutlicht das vielleicht besonders gut. Die Darstellung des Mannes mit seiner obsessiven Anbetung für Laura, die auf TikTok weniger an ehrliche Liebe denn an belästigende Kommentare auf der Straße oder im Internet erinnert, ist näher an der Lebensrealität eines TikTok-Nutzers als ein Renaissance-Gedicht oder das Porträt des Dichters. Über das Einfallstor des lustig aufgemachten Videos beschäftigen die Nutzer sich im besten Fall aber mit allen drei Aspekten.
Das bedeutet aber auch, dass den Kanälen, die gerade mediale Aufmerksamkeit bekommen, langfristig unbedingt Angebote der Vertiefung an die Seite gestellt werden müssen, um eine sinnvolle Erweiterung des digitalen Raumes darzustellen. Ansonsten kann es passieren, dass die Museen im schnelllebigen Aufmerksamkeitszirkus von TikTok bald wieder vergessen werden, wenn der anfängliche Überraschungseffekt verflogen ist.
Zukunft von TikTok in den USA ungewiss
Während immer mehr Museen ihre eigenen Kanäle auf TikTok eröffnen, möchte US-Präsident Donald Trump die Videoplattform verbieten. Trump hatte am Freitagabend in seinem Dienstflugzeug Air Force One mitreisenden Journalisten zufolge gesagt: "Was TikTok betrifft, so verbannen wir sie aus den USA." Er habe die Befugnis dafür und könne dies mit einer Präsidentenverfügung oder einer wirtschaftlichen Notstandsermächtigung tun. Eine Ankündigung dazu stand am Sonntag aber zunächst weiter aus. In den USA hat TikTok nach eigenen Angaben 100 Millionen Nutzer. Auch US-Museen sind auf TikTok, wie etwa das Metropolitan Museum of Art.
Und auch die Deutsche Welle hat vor kurzem einen TikTok-Account gestartet. Unter @dw_berlinfresh gibt es einen frischen Blick auf europäische Kultur.