Totenklagen
5. August 2014Ob in Berlin, Wien, Paris oder London: Fast überall in Europa stieß die Mobilmachung der Streitkräfte Ende Juli 1914 auf große Zustimmung. Junge Männer meldeten sich begeistert freiwillig zum Kriegseinsatz - in der Hoffnung, nach kurzem Dienst an der Front als Held mit einem Orden auf der Brust zurückzukehren. Doch die Wirklichkeit auf den Schlachtfeldern sah anders aus.
Erste Zweifel
Während heroische Klänge zuhause im Konzertsaal, weitab von der Front, noch lange zum normalen Musikalltag gehörten, kamen einigen Mitgliedern der komponierenden Zunft bereits Ende 1914 Zweifel an der von den Regierungen propagierten Richtigkeit des Krieges. Claude Debussy, ein durchaus glühender französischer Patriot, schrieb 1916: "Der Krieg dauert fort – man kann es gar nicht begreifen. Wann wird endlich der Hass aufhören? Muss man denn bei diesem geschichtlichen Ablauf überhaupt von Hass reden? Wann wird man aufhören, das Schicksal der Völker Leuten anzuvertrauen, die die Menschheit als Mittel zum Aufstieg sehen?" Mit seinem "Noël des enfants qui n'ont plus de maison", dem "Weihnachtslied für die Kinder, deren Haus zerstört wurde", schrieb Debussy eines der ersten erschütternden Werke über die Auswirkungen des grausamen Krieges.
Ein musikalisches Denkmal
Je länger die Kämpfe andauerten, desto mehr setzten sich die Musiker in ihren Kompositionen mit dem Tod auseinander und betrauerten in ihren Werken den Tod naher Freunde. Eines der bekanntesten Stücke ist Maurice Ravels Klaviersuite "Le Tombeau de Couperin" (Couperins Grab), die zwischen 1914 und 1917 entstand und die Ravel später für Orchester bearbeitete. Mit Tombeau bezeichneten französische Komponisten in der Barockzeit Trauerstücke für verstorbene Kollegen. Ravel benannte sein "Tombeau" nach François Couperin, Frankreichs größten Barockkomponisten. Da die sechssätzige Suite sukzessive während des Ersten Weltkriegs entstand, wurde sie bald zu einer Trauermusik ganz anderer Art: Ravel widmete jeden einzelnen Satz dem Gedenken an einen gefallenen Soldaten aus seinem Freundeskreis. Er war nicht der einzige, der Trauer in Klaviermusik umsetzte: Auch der britische Komponist Frank Bridge schrieb für seinen 1918 getöteten Kollegen Ernest Farrar eine Klaviersonate. Max Regers 1915 begonnenes "Requiem", das "den gefallenen deutschen Soldaten" gewidmet ist, blieb hingegen unvollendet.
Reqiuem für alle Kriegsopfer
Der bekannte Komponist Hanns Eisler, der in einem sozialdemokratischen Elternhaus aufwuchs und später Kontakte zur kommunistischen Partei aufnahm, arbeitete während seiner Militärzeit ab 1916 an einem "Oratorium gegen den Krieg"; allerdings blieb auch dieses Werk unvollendet. Für sein Lied "Epitaph (Grabinschrift) auf einen in der Flandernschlacht Gefallenen" schrieb Eislers Freund Bertolt Brecht den Text.
Der Brite Ralph Vaughan Williams verarbeitete seine Kriegserlebnisse auf den französischen Schlachtfeldern erst Jahre später. 1922 schuf er seine 3. Sinfonie, die unter den Namen "Pastoral Symphony" bekannt wurde. Gut ein Vierteljahrhundert bevor Benjamin Britten angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkrieges sein berühmtes "War Requiem" schrieb, komponierte sein heute weitgehend vergessener Kollege John Foulds "A World Requiem" - eine ergreifende Anklage gegen das sinnlose Töten zwischen 1914 und 1918.
Lähmendes Grauen
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, die mehr oder weniger patriotisch begeistert ihren Kriegsdienst für den Zar in Russland absolvierten, blieb der im Schweizerischen Exil lebende Igor Strawinsky von solchen Einsätzen verschont. Doch auch er beschäftigte sich 1918 mit dem Thema Krieg: "Die 'histoire du soldat' blieb mein einziges Bühnenwerk mit aktuellen Bezügen", sagte Strawinsky 1962 über seine 'Geschichte vom Soldaten', in der der Protagonist versucht, den Teufel zu überlisten, ihm letztlich aber unterliegt. Damit gelang ihm eine eindrucksvolle Parabel auf die Verführungskünste der Macht. Als Strawinskys Werk am 28. September 1918 in Lausanne uraufgeführt wurde, sollte der Erste Weltkrieg nur noch wenige Wochen dauern; seine Auswirkungen auf den kreativen Schaffensprozess vieler Komponisten waren jedoch kaum zu übersehen.
Angesichts von Zerstörung und Tod brachten nur noch wenige Musiker Noten zu Papier; und selbst nach Kriegsende sollte es noch eine Weile dauern, bis das lähmende Entsetzen über die Ereignisse einer kreativen musikalischen Auseinandersetzung wich.