Musterschüler mit erkennbaren Schwächen
17. März 2017Die ersten Sätze stimmen besonders optimistisch ein: Montenegro gelte als das Land, dessen Beitrittsprozess am weitesten fortgeschritten sei, heißt es gleich in der Einführung des Jahresberichts, der im EU-Parlament am Donnerstag mit breiter Mehrheit (471 Stimmen dafür, 98 dagegen, 41 Enthaltungen) gebilligt wurde. Die Abgeordneten loben ausdrücklich, dass eine neue Gesetzgebung im Bereich Rechtsstaatlichkeit „weitgehend vollendet" sei und fordern die EU auf, die Verhandlungen mit Montenegro zu beschleunigen. Liest man den Bericht Punkt für Punkt, muss man aber feststellen, dass es an anscheinend allen Ecken und Kanten hapert: Effektive Lähmung des Parlaments, grassierende Korruption, Einschränkungen der Pressefreiheit, unzulässiger Einfluss auf die Unabhängigkeit der Justiz, Mängel beim Minderheitenschutz und gravierende Umweltschäden sind nur einige der zahlreichen Missstände, die Anlass zur Kritik geben.
War das Lob also voreilig oder möglicherweise auch politisch motiviert? Der britische Berichterstatter für Montenegro Charles Tannock (EKR), dem die meisten Parlamentskollegen einen "ausgewogenen" Bericht bescheinigen, will diese Vermutung nicht gelten lassen. Natürlich gehörten die Korruption und das organisierte Verbrechen zu den gravierenden Problemen in Montenegro, wie eben auch in allen Ländern des Westbalkans, sagt der konservative Politiker der DW. Diese Feststellung dürfe allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Montenegro bereits 26, zum Teil anspruchsvolle, Verhandlungskapitel eröffnet habe. Zwei davon seien sogar vorläufig abgeschlossen. Auf die Frage hin, wo er derzeit das größte Defizit beim gelobten Beitrittskandidaten ortet, weist Tannock auf die besondere Verantwortung der Opposition hin: „Es ist schade, dass die montenegrinische Opposition seit der jüngsten Wahl im Oktober das Parlament immer noch boykottiert. Auch dadurch kann die Demokratie nicht so gut funktionieren, wie ich es mir wünsche" erklärt der konservative EU-Politiker.
"Man muss die Relation sehen"
Sämtliche NGOs sind der Auffassung, dass die Demokratie im Land auch vor dem Boykott der Opposition nicht vorbildlich funktioniert hat. Kritiker sprechen von "Stabilokratie" und bringen dadurch mit einem ironischen Unterton zum Ausdruck, dass Stabilität in Montenegro um den Preis offenkundiger Rechtsverletzungen wichtiger erscheint als wahre Demokratie. Nikos Androulakis, der für die sozialistische Fraktion zu Montenegro Stellung nimmt, widerspricht der Vermutung, das EU-Parlament wolle dem NATO-Anwärter Montenegro lediglich ein scheinbar gutes Zeugnis ausstellen. Es sei natürlich richtig, dass geopolitische Argumente für alle Westbalkanländer auf ihren Weg zur EU und damit auch für Montenegro sprechen, erklärt Androulakis im Gespräch mit der DW. Das bedeute aber nicht, dass die EU ihre Werte verrate. Man müsse halt die Relation sehen: "Schönreden wollen wir nichts. Wir sagen nur: Alle Länder der Region haben große Probleme, Montenegro hat eben etwas weniger Probleme", meint der Sozialist.
Trotz russischen Widerstands hatte im Jahr 2015 auch die NATO Montenegro eingeladen, dem Militärbündnis beizutreten. Für Europas Sozialisten hat der bevorstehende NATO-Beitritt mit den laufenden EU-Beitrittsverhandlungen allerdings nichts zu tun. „Es wäre einen Fehler, das Atlantische Bündnis mit der EU gleichzusetzen und die beiden Verhandlungsrunden aus irgendeinem Grund verbinden zu wollen", mahnt Androulakis. Anders Charles Tannock: Sämtliche Verhandlungskapitel der NATO seien doch ohnehin fast identisch mit den EU-Beitrittskriterien, versichert der konservative Politiker. Und er fügt hinzu: „Nur noch wenige NATO-Mitglieder müssen den Beitritt Montenegros ratifizieren. Sollte also nichts Unvorhersehbares passieren, etwa dass die USA in letzter Minute anders entscheiden, dann rechne ich damit, dass Montenegro bald in das Militärbündnis eintritt".
Sorge über den russischen Einfluss
Für Aufregung sorgen im EU-Parlament die Spekulationen über Aktivitäten prorussischer Kräfte und Nachrichtendienste in Montenegro. Westliche Presseberichte bringen Moskau sogar mit einem angeblichen Putschversuch gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Milo Dukanovic vor der jüngsten Parlamentswahl im Oktober 2016 in Verbindung. In seinem Bericht erwähnt Charles Tannock nur ansatzweise die angeblichen Versuche Russlands „die Entwicklungen in Montenegro zu beeinflussen". Auf die Frage der DW hin, ob es denn auch Beweise dafür gäbe, spricht der EU-Politiker allerdings voller Überzeugung von einem „offenem Geheimnis" und verweist auf entsprechende Äußerungen des britischen Außenministers Boris Johnson. Der Sozialist Nikos Androulakis gibt sich dagegen skeptisch: „Darüber möchte ich nicht sprechen, bevor eindeutige Beweise vorliegen. Ich habe aber die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini gebeten, eigene Untersuchungen einzuleiten" sagt der sozialistische Politiker der DW. In diesem Zusammenhang lobt Androulakis nicht zuletzt die Bereitschaft Serbiens, sich an diesen Untersuchungen zu beteiligen.