Mutmaßungen nach dem Mord im Kosovo
17. Januar 2018Das Nordkosovo, durch den Fluss Ibar vom Rest des Landes auch physisch getrennt, ist tiefste Provinz. Berüchtigt ist der Norden, weil seit dem Krieg weder Priština noch die internationale Protektoren echte Kontrolle über das Gebiet haben. Das Sagen haben dort eher die Strippenzieher aus Belgrad und die organisierte Kriminalität. Es geht um eine Fläche von etwa 1.300 Quadratkilometer, verteilt auf vier Gemeinden mit insgesamt nur 50.000 Einwohnern, fast alle Serben. Hier kennt jeder jeden.
Und jeder kannte Oliver Ivanović. Am Dienstagmorgen wurde der prominenteste serbische Politiker aus dem Kosovo vor der Parteizentrale der SDP (Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit) in der Stadt Mitrovica ermordet. Die Art der Ausführung erinnert an Mafia-Methoden: die Attentäter schossen aus einem fahrenden Auto. Sechs Treffer in die Brust, gehört oder gesehen hat es angeblich niemand - geschossen wurde wahrscheinlich mit Schalldämpfern. Ein ausgebrannter Opel Astra wurde später einen Kilometer vom Tatort entfernt gefunden. Mehr hatten die Ermittler bisher nicht zu melden.
Ein Politiker mit vielen Feinden
Es riecht nach einer dieser Exekutionen, die nie eindeutig aufgeklärt werden. Umso mehr blühen die Mutmaßungen. Ivanović, unter der vorherigen serbischen Regierung Staatssekretär im Kosovo-Ministerium, hatte gewiss viele Feinde. Als gemäßigter Politiker, der früh die Realität der Unabhängigkeit von Kosovo zur Kenntnis genommen hatte, gleichzeitig aber die Rechte der Serben entschieden vertrat, kam Ivanović weder albanischen Nationalisten in Priština noch serbischen Mythenerzählern in Belgrad gelegen.
"Ich fürchte, dass in dieser labilen Lage die Unschuldigen zu Schaden kommen könnten. Und ehrlich, ich fürchte auch für meine Sicherheit", sagte Ivanović am vergangenen Freitag. Nach dem sein Auto im letzten Juli in Brand gesetzt wurde, machte er im DW-Interview deutlich, dass er seine politischen Widersacher aus dem Nordkosovo verdächtigt. "Die Botschaft habe ich verstanden: 'Kandidiere nicht bei den Lokalwahlen im Oktober'." Es scheint, als gehe die Gewalt gegen Serben im Norden nicht von Albanern, sondern von "extremistischen Serben" aus.
"Es ist eine Tragödie. Ivanović war ein mutiger Mann des Kompromisses", sagt Momčilo Trajković, ein anderer Serbenführer aus Mitrovica, im Gespräch mit der DW. So wie viele Bürger kam auch er zum Tatort, um eine Kerze anzuzünden. "Ivanović hinterlässt eine große Lücke in unserer politischen Arbeit hier im Kosovo. Die, die das gemacht haben, haben offensichtlich keinen Verstand." Über mögliche Täter sagte Trajković nichts.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Das Selbstverständnis der Kosovo-Serben, "politische Opponenten" zu sein, erweist sich in der Realität als klares Understatement. Die Partei "Srpska lista" ist ein Ableger der übermächtigen Fortschrittspartei aus Serbien und wird aus Belgrad gesteuert. Der serbische Machthaber Aleksandar Vučić warb persönlich für "Srpska lista", während seine Parteileute und regierungsnahe Fernsehsender jegliche serbische Opposition im Kosovo - vor allem Ivanović - als Verräter und Albanerfreunde abstempelten. Mehrere seiner Mitstreiter zogen sich unter Druck aus dem Rennen zurück, aber Ivanović trat bei den Lokalwahlen in Mitrovica an - und verlor krachend. Die "Srpska lista" kontrolliert nun alle serbischen Gemeinden im Kosovo.
"Ich weiß es nicht, wer Oliver ermordet hat. Aber wir alle wissen, wer ihn zur Zielscheibe machte, wer die abscheuliche Kampagne gegen ihn führte und seine Unterstützer und Freunde einschüchterte", schrieb der serbische Oppositionspolitiker Đorđe Vukadinović auf Twitter. Weitere Vertreter der schwachen Opposition haben sich ähnlich geäußert. Der Tenor: Es ist das Regime von Aleksandar Vučić, das über alles in Serbien wie im Nordkosovo entscheide und politische Gegner zu Freiwild erkläre.
Andererseits nannte Präsident Vučić auf einer vielbeachteten Pressekonferenz seine Kritiker "miese Typen", die den Mord zu politischen Zwecken nutzten. Er schrie sogar die Journalisten an, die es wagten, ihm kritische Fragen zu stellen. Vučić sieht die Liquidierung als "terroristischen Akt" und warnt die Regierung in Priština und ihre internationale Partner davor, den Mord als Anlass zu nehmen, im Nordkosovo mit Sicherheitskräften einzumarschieren. "Wenn sie die Mörder nicht finden, finden wir sie!"
Auch mehrere kosovarische Medien deuteten an, dass Ivanović als Opfer der innenserbischen Spaltungen getötet wurde. Der bekannte kosovo-albanische Politiker Azem Vllasi beschuldigte "serbische und russische Extremisten, die frei im Norden herumlaufen". Belgrad wird versuchen, die Tat den Albanern zuzuschreiben um "vor der internationalen Gemeinde die Serben als angeblich von Albanern gefährdet darzustellen", sagte Vllasi. Beweise für seine Behauptung lieferte er nicht.
Angst vor Gewaltausbruch
Das Attentat kam zu einem heiklen Zeitpunkt. Nach einem Jahr Funkstille waren am Dienstag die serbischen und kosovarischen Unterhändler erneut in Brüssel zusammen gekommen, die serbische Seite hatte die Gespräche nach dem Mord aber abgebrochen.
Auch im Kosovo selbst ist die Atmosphäre aufgeheizt. Im Februar werden die ersten Verhaftungen der früheren Unabhängigkeitskämpfer der UÇK erwartet, denen die Prozesse vor dem neuen Sondergericht in Den Haag wegen Verbrechen an Serben gemacht werden sollen. Zurzeit spielen Politeliten im Kosovo - von früheren UÇK-Kriegsherren immer noch dominiert - mit dem Gedanken, dem Gericht die Zusammenarbeit zu verweigern.
"Sollte das geschehen, wäre das Kosovo auf dem Weg der Isolation statt der Kooperation", sagte der Kosovo-Berichterstatter des EU-Parlaments Igor Šoltes. Der Frieden sei gerade nach dem Mord an Ivanović sehr brüchig, sagte der slowenische Politiker gegenüber der DW. "Jetzt muss man vor allem nüchtern und vernünftig reagieren, um mit dem Dialog die Spannungen zu verringern, die eventuell zu Gewalt führen könnten."
2018 wird von vielen Beobachtern als entscheidend für die Beziehungen zwischen Serbien und seiner ehemaligen Südprovinz gesehen. Die Europäische Union, die mit mäßigem Erfolg zwischen einstigen Kriegsfeinden vermittelt, drängt auf ein umfangreiches "Normalisierungsabkommen". In Serbien wird spekuliert, dass dieses Abkommen vielleicht nicht die explizite Anerkennung der kosovarischen Unabhängigkeit bedeuten würde, wohl aber den Weg zu einem UN-Sitz für das Kosovo frei machen könnte. Aus Brüssel wurde indes deutlich gemacht, dass die Normalisierung der Beziehungen die Hauptbediengung für die EU-Integration sei.