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Politik

Myanmar im Strudel zunehmender Gewalt

1. Juli 2021

Weiterhin entstehen in Myanmar neue Formen des Widerstands gegen die Militärregierung. Doch ohne gemeinsame Strategie haben sie wenig Aussicht auf Erfolg.

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Myanmar - Protest
Bild: Handout/SHWE PHEE MYAY NEWS AGENCY/AFP

Seit dem Putsch in Myanmar und der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste durch die Militärregierung entstehen im ganzen Land neue Widerstandsgruppen und neue Konfliktregionen, die in der Vergangenheit vom Bürgerkrieg weitgehend verschont geblieben waren. Zum ersten formieren sich neue bewaffnete Gruppen, zum zweiten ist in Großstädten wie Yangon, Mandalay und anderen eine Art Stadtguerilla entstanden und zum dritten versucht die gewählte Regierung im Untergrund eine föderalen Armee aufzubauen, die sogenannte "People's Defence Force" (PDF).

Die Entstehung neuer Konfliktherde im ganzen Land verschärft die humanitäre Lage, die durch Corona und den rapide voranschreitenden Zerfall der Wirtschaft ohnehin prekär ist. Hilfsorganisationen haben wegen der schlechten Sicherheitslage immer mehr Schwierigkeiten, die Hilfe zu den Menschen zu bringen. Die unsichere Lage führt auch zu einer Zunahme der Kriminalität, insbesondere des Drogenhandels. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die unmittelbaren Nachbarländer, sondern bis hin nach Süd-, Südost- und Ostasien, wo synthetische Drogen aus Myanmar die Märkte überschwemmen.  

Sieg oder Niederlage   

Das Militär, in Myanmar Tatmadaw genannt, schließt Verhandlungen mit der als "Terroristen" gebrandmarkten Opposition aus. Es setzt wie in der Vergangenheit auf Zwang und Gewalt. Nach Angaben der in den USA ansässigen Organisation "Assistance Association of Political Prisoners" wurden vom Militär seit dem Putsch 883 Personen getötet, mehr als 5000 verhaftet.

Infografik Karte Vielvölkerstaat Myanmar DE

Die oppositionellen Kräfte, die das Militär ihrerseits zu Terroristen erklärt haben, schließen Verhandlungen ebenfalls kategorisch aus. "Der Widerstand hat einen zunehmend revolutionären Charakter, den meisten Dissidenten geht es nicht mehr um die Wiederherstellung des Status quo ante, sondern darum, die Tatmadaw aufzulösen", schreibt Richard Horsey im jüngsten Bericht der International Crisis Group (ICG). Und weiter: "Die revolutionäre Agenda kennt nur den Sieg über die Tatmadaw oder die Kapitulation."  

Neue Widerstandsgruppen  

Als Reaktion auf die verhärteten Fronten haben sich neue Widerstandsgruppen gebildet, wie in der Stadt Mindat im westlichen Chin-Staat. Dort hatte sich die neue "Chinland Defence Force" (CDF) gebildet. Im Mai kam es nach gescheiterten Verhandlungen zu mehreren Scharmützeln mit dem Militär. Dieses beschoss die Stadt mit Artillerie, bevor sie Luftlandetruppen absetzte und die Kontrolle über Mindat zurückeroberte. Die Kämpfer des CDF und die meisten Bewohner der Stadt flohen in die umliegenden Hügel, wo sie bis heute unter erbärmlichen Bedingungen leben. Hilfe erreicht sie nicht.

Flüchtlinge auf einem bergigen Weg im Chin-Staat nach Gefechten mit der Tatmadaw
Nach Kämpfen im nordwestlichen Chin-Staat sind viele Menschen auf der FluchtBild: REUTERS

Neue Fronten nach altem Muster  

Mindat steht dabei nur als besonders Beispiel. Auch in anderen Teilen des Landes etwa in Sagaing in der Landesmitte und dem Kayah-Staat  an der Grenze zu Thailand kam es zu heftigen Kämpfen. Die Tatmadaw wendet dabei zur Aufstandsbekämpfung die "Strategie der vier Schnitte" an. Mit gezielten Angriffen auch auf die Zivilbevölkerung sollen die Aufständischen von Nahrung, Geld, Rekruten und Informationen abgeschnitten werden.   

Horsey von der ICG befürchtet, dass die aktuellen Lage es wahrscheinlich macht, "dass in diesen Regionen dauerhaft neue bewaffnete Gruppen entstehen, und zwar nach dem Schema, wie wir es über viele Jahrzehnte in verschiedenen Teilen Myanmars beobachten konnten."  

Stadtguerilla  

In den Städten sind kleine Gruppen von Zivilisten und Demonstranten dazu übergegangen, gegen das Militärregime mit Sabotage, Brandstiftung, Bombenanschlägen und der Ermordung von vermeintlichen oder tatsächlichen Informanten vorzugehen. Seit April gab es mehrere hundert Anschläge im ganzen Land.

Eine Schule in Sittwe wird von schwer bewaffneten Polizisten bewacht
Polizisten bewachen Schulen, seitdem diese Anschlagsziele wurden. Doch die Eltern der Kinder trauen den Sicherheitskräften nicht Bild: STR/AFP/Getty Images

Die Anschläge richten sich gegen Verwaltungsgebäude, Banken, Polizei- und Militärinstallationen, aber auch gegen Schulen. Damit sollen Eltern davon abgeschreckt werden, ihre Kinder in die Schule zu bringen. Gegner des Putsches hatten zum Boykott der Schulen aufgerufen. Als Reaktion auf die Anschläge auf Schulen hat die Regierung im Untergrund (National Unity Government, NUG), am 26. Mai einen Verhaltenskodex für den Widerstand formuliert, der Anschläge auf Schulen, medizinische Einrichtungen und andere zivile Ziele verbietet. Seither gab es wenige Anschläge auf Schulen, aber sie haben nicht ganz aufgehört.   

Föderale Armee  

In den ersten Monaten nach dem Putsch hat die NUG versucht, mit den seit langem existierenden bewaffneten ethnischen Organisationen eine militärische Allianz zu schmieden. "Doch bisher war keine der ethnischen Armeen bereit, der militärischen Allianz beizutreten", so Horsey. Die ethnischen Armeen gewähren geflüchteten Dissidenten zwar Unterschlupf und bilden sie auch an der Waffe und in Sabotage aus, aber sie unterstehen nicht der NUG.   

Da es der NUG nicht gelungen ist, eine Einheitsfront zu formieren, hat sie am 5. Mai 2021 die Gründung einer föderalen Armee, der People's Defence Force (PDF), bekannt gegeben. Allerdings kontrolliert die PDF weder ein Territorium noch verfügt sie über schwere Waffen. Auch ist völlig unklar, woher die Offiziere kommen sollen und ob es eine funktionierende Befehlskette gibt.

Wenig Aussicht auf Erfolg  

Der Politologe Lucas Meyers vom Asien-Programm der US-Denkfabrik Wilson Center kommt zu dem Schluss: „Die Tatmadaw scheinen die Oberhand zu haben, und die Aussichten auf einen militärischen Sieg der Opposition gegen das Militär sind unter den derzeitigen Umständen gering."  

Horsey von der ICG ist weniger entschieden. "Die Entstehung neuer Milizen an vielen verschiedenen Orten hat die Konfliktlandschaft für die Tatmadaw schwieriger gemacht." Nimmt man die traditionellen Konflikte in den Minderheitengebieten und die angespannte Sicherheitslage in den Städten hinzu, könne das die Kräfte des Regimes überfordern. Allerdings fügt er auch hinzu: "Kampagnen zur Aufstandsbekämpfung sind traditionell das Metier der Tatmadaw."  

Der Politologe und Myanmar-Experte Andrew Selth warnt vor einer unkontrollierten Gewalt der Opposition, bei der die Grenze zum Terrorismus nicht immer leicht auszumachen ist. "Die Tötung oder Verletzung von Unschuldigen wäre ein Propagandageschenk für die Junta." Und er gibt zu bedenken: "Diese Taktiken schränken auch die Handlungsmöglichkeiten ausländischer Regierungen und internationaler Organisationen bei der Unterstützung der Oppositionsbewegung ein."  

 

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia