1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Mysteriöse Todesserie russischer Oligarchen

6. Mai 2022

In den vergangenen drei Monaten kamen gleich sieben russische Oligarchen unter mysteriösen Umständen ums Leben – teils mit ihren Familien. Die meisten von ihnen kamen aus dem Öl- und Gassektor.

https://p.dw.com/p/4AwJN
Russland Moskau | Polizei vor Wohnhaus von Ex-Vizepräsident Gazprombank Vladislav Avayev
Ein Polizist bewacht den Eingang zum Wohnhaus des ehemaligen Vizepräsidenten der Gazprombank, Wladislaw AwajewBild: Fadeichev Sergei/Tass/dpa/picture alliance

19. April, Lloret de Mar: Die spanische Polizei erhält einen Anruf des russischen Oligarchensohnes Fedor Protosenja. Seine Familie besitzt eine Villa im Ort. Stundenlang, berichtet Fedor, habe er versucht, von Frankreich aus telefonisch seine Mutter zu erreichen, doch die gehe nicht ans Telefon. Als die Polizei das Anwesen erreicht, findet sie nur noch die drei Leichen seiner Eltern und seiner Schwester. Zunächst geht die Polizei davon aus, dass Fedors Vater, der Millionär Sergej Protosenja, die beiden Frauen erstochen und sich dann im Garten der Villa erhängt habe. Schnell kommen jedoch Zweifel am Ablauf der Tat auf.

Ein Tag zuvor, 3000 Kilometer entfernt. Auch hier macht die Polizei einen grausigen Fund: Wladislaw Awajew, auch er ein Multimillionär, sowie seine Frau und seine 13-jährige Tochter liegen tot in ihrer Moskauer Luxuswohnung; Russlands staatliche Nachrichtenagentur Tass berichtet, er habe eine Pistole in der Hand gehalten. Angeblich soll auch er erst seine Frau und seine Tochter und dann sich selbst umgebracht haben; Tatwaffe hier: eine Pistole.

Spanien Lloret de Mar | Russe Sergej Protosenja von Fa Novatek tot aufgefunden
In dieser Villa in Lloret de Mar soll Sergej Protosenja erst seine Frau und Tochter und dann sich selbst getötet habenBild: Fabien Cottereau/Maxppp/dpa/picture alliance

Schwerreiche Magnaten

Die beiden Fälle liegen nur 24 Stunden auseinander und weisen nicht nur vom angenommenen Tathergang große Parallelen auf. Denn beide - Protosenja wie Awajew - waren millionenschwere Oligarchen aus den höchsten Kreisen der russischen Öl- und Gasindustrie. Protosenja war einst stellvertretender Vorsitzender des Erdgasunternehmens Novatek, Awajew Vizepräsident der Gazprombank. Und sie gehören zu einer ganzen Reihe mysteriöser Todesfälle unter russischen Oligarchen - vor allem aus der Energiebranche - in diesem Jahr.

Bereits Ende Januar, also noch vor Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine, soll Leonid Schulman, ein 60-jähriger Top-Manager bei Gazprom, Selbstmord begangen haben, ebenso wie Alexander Tjuljakow, der am 25. Februar erhängt in seinem Haus in St. Petersburg gefunden wurde. Auch Tjuljakow war ein ehemaliger Manager des russischen Energieriesen. Drei Tage später wurde der in der Ukraine geborene Mikhail Watford, auch er ein Gas- und Ölmagnat, erhängt in der Garage seines Herrenhauses im britischen Surrey aufgefunden.

Am 24. März wurde der Milliardär Wasiliy Melnikow, der den medizinischen Versorgungsriesen MedStom leitete, zusammen mit seiner Frau Galina und ihren beiden kleinen Söhnen tot in ihrer mehrere Millionen Dollar teuren Wohnung im russischen Nischni Nowgorod aufgefunden. Auch in diesem Fall gibt es große Parallelen zu den Todesfällen von Protosenja und Awajew. 

Und schließlich ist da noch der Fall Andrej Krukowski. Der 37-Jährige war Direktor des Skiressorts Krasnaja Poljana in der Nähe von Sotschi. Dorthin soll auch Russlands Präsident Putin gerne seine Gäste zum Skifahren einladen. Krukowski, schreibt die russische Zeitung "Kommersant", sei am 2. Mai während einer Wanderung von einem Felsvorsprung in den Tod gestürzt.

Russische Oligarchen leben gefährlich

Sieben mysteriöse Todesfälle unter schwerreichen Russen in nur drei Monaten – das lässt Raum für allerlei Spekulationen. Zahlreiche Medien mutmaßten in den vergangenen Tagen bereits, dass die Selbstmorde womöglich nur fingiert gewesen seien. Einige brachten sogar die Möglichkeit ins Spiel, der Kreml oder gar Wladimir Putin selbst könne etwas mit den Todesfällen zu tun gehabt haben. In den vergangenen Jahren war es bereits mehrfach zu spektakulären Mordanschlägen auf Kremlkritiker gekommen. So war Kremlkritiker Alexej Nawalny im August 2020 am Flughafen von Tomsk mit einer Nowitschok-Substanz vergiftet worden; ebenso wie zwei Jahre zuvor der ehemalige Oberst des russischen Geheimdienstes GRU, Sergej Skripal. Der russische Geheimdienst-Überläufer Alexander Litwinenko war 2006 in London mit Hilfe von radioaktivem Polonium umgebracht worden. Im Jahr 2017 veröffentlichte die US-amerikanische Zeitung USA Today gar eine Recherche, nach der mindestens 38 Oligarchen über einen Zeitraum von drei Jahren starben oder vermisst wurden.

Deutschland | Behandlung Alexei Navalny in Berlin
Nach seiner lebensgefährlichen Vergiftung am Flughafen in Tomsk wurde Alexej Navalny monatelang in Berlin behandeltBild: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Seltsam jedoch ist, dass keiner der in diesem Jahr ums Leben gekommenen Oligarchen für kritische öffentliche Äußerungen zum Ukraine-Krieg bekannt war. Andererseits stand auch keiner von ihnen auf einer der internationalen Sanktionslisten, die im Zuge des Ukrainekrieges verhängt wurden. In einem kürzlich erschienenen Bericht des Warschau-Instituts, einer polnischen Denkfabrik, die sich mit Russland- und Sicherheitspolitik beschäftigt, heißt es, dass an den Tatorten in Russland innerhalb kürzester Zeit nicht nur die russische Polizei, sondern auch der Sicherheitsdienst von Gazprom Untersuchungen aufgenommen habe. "Möglicherweise", heißt es in dem Bericht, "versuchen jetzt einige hochrangige Kreml-nahe Leute, Spuren von Betrug in staatlichen Unternehmen zu vertuschen."

Kritiker in Lebensgefahr

Beweise für diese These oder gewaltsame Fremdeinwirkung gibt es jedoch nicht. Und so geht etwa die spanische Polizei im Fall Sergej Protosenja weiter von einem Familiendrama aus. Sein Sohn Fedor jedoch will daran nicht glauben. "Mein Vater ist kein Mörder", sagte er gegenüber mehreren britischen Medien. Ob die Umstände, unter denen seine Familie ums Leben kam, jemals vollständig aufgeklärt werden, bleibt ungewiss.

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

Thomas Latschan Bonn 9558
Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik