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München atmet

Johanna Schmeller, München 24. Juli 2016

Vor zwei Nächten hat ein Amoklauf München lahmgelegt, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg fand das öffentliche Leben nicht statt. Der erste Schock ist vorbei. Und jetzt? Aus München Johanna Schmeller.

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Deutschland München nach dem Amoklauf Stachus Kinder
Bild: DW/J. Schmeller

Das Eiscafé am Olympia-Einkaufszentrum hat wieder geöffnet. Eine mannshohe Plastikeiswaffel mit drei Kugeln, Erdbeerrosa, Vanillegelb, Schokobraun, soll müde Einkäufer anlocken - eigentlich.

Auf den Tischen stehen Laptops, daneben schwere Technik: Kameras, Mikrofone, klobige Stative. Sprachfetzen auf Polnisch, Italienisch, Französisch, Japanisch und in breitem amerikanischen Englisch schwappen durch die Tischreihen. An Tag zwei nach der Schießerei ist vor allem ausländische Presse da. Die Welt zu Gast.

Hin und wieder läuft ein Jogger vorbei. Ab und an hält ein Fahrrad. Noch trennt ein schwarz verhangener Bauzaun - davor fünf meterbreite, staatstragende Kränze, davor weiß-rote Absperrungen - die Münchner von jenem Ort, an dem vor dem Wochenende zehn Menschen starben. Ihre Geschichten sind nun Stadtgeschichte.

Filmteams und Trauernde in München nach dem Amoklauf (Foto: DW/Schmeller)
Journalisten aus der ganzen Welt sind nach München gekommenBild: DW/J. Schmeller

Wenn der Schock nachlässt

Im Brunnen am Stachus, einem Platz, an dem in den ersten Stunden eine Fluchtroute vermutet wurde, spielen Kinder (Artikelbild). Vor dem Augustinerbräu stoßen Touristen und Einheimische mit Bier an. Die Hitze drückt die Innenstadt zu Boden. Am Friedensengel wird Sommerfest gefeiert.

Doch als gegen Mittag in der Frauenkirche, dem Wahrzeichen Münchens, die Messe gelesen wird, ist auch der letzte Platz gefüllt. Menschen stehen in den Gängen. Die Gedenkkerzen sind ausgegangen. Eine Stadt zwischen Erschrecken und Verstehen.

"Für die Familien ist der plötzliche, gewaltsame Tod eines Angehörigen unbeschreiblich. Er ruft große Reflexe hervor, Trauer, Wut, Schreien. Aber auch für die Stadt wird das kollektive Trauma lange dauern", sagt Diakon Dietmar Frey von der Münchner Notseelsorge. Wenn die Polizei abrückt, fängt sein Job an. Seit 2006 besteht ein Katastrophenplan, der festlegt, wie Polizei, Rettungsdienste und Notfallseelsorge Hand in Hand arbeiten. "Es ist wichtig, jetzt Frieden zu finden. Die Anwohner müssen betreut werden, Orte und Rituale bekommen, die Stadtgesellschaft ebenso."

Seelsorger D. Frey in München (Foto: DW/Schmeller)
Diakon und Seelsorger Frey: Auch für die Stadt wird das kollektive Trauma lange dauernBild: DW/J. Schmeller

Verstehen, um zu trauern

Nicht überall kehrt das Leben zurück. Am zweiten Tag stehen besonders jene am Tatort, die es früher nicht geschafft haben. Eine Verkäuferin erzählt, dass sie am Freitag zwei Stunden früher heimgegangen sei - sie wollte Schuhe kaufen, weil sie sich eine Blase gelaufen hatte. Dann bekommt sie eine WhatsApp-Nachricht, dass auf ihrer Etage geschossen wird. In die Kamera sprechen möchte sie nicht. Es ist ihre Geschichte, die erst seit Freitag Teil ihres Lebens ist - und die sie vermutlich noch oft erzählen wird.

Dann nähern sich vier schwarz gekleidete Figuren der Absperrung. Die Gruppe legt einen großen Strauß Gladiolen ab. Sofort sind sie von Kameras umringt. Ein Reporter spricht sie an, hebt die Hände: Hey, ich mach' nur meinen Job, sagt seine Geste.

Ein Mann in den Fünfzigern fängt an zu weinen, schiebt die Sonnenbrille hoch, trocknet sein Gesicht. Abrupt wenden sich alle ab und gehen.

Gottesdienst in der Münchener Frauenkirche nach dem Amoklauf (Foto: DW/Schmeller)
Trauer in der Frauenkirche in MünchenBild: DW/J. Schmeller

Auf den Stufen gegenüber der Absperrung umarmen sich zwei Frauen eng. Eine weint, eine tröstet. Ein japanisches Team legt die Kamera auf den Boden und filmt. Sonnenblumen, Kerzen und Tränen sind die Bilder, die aus München um die Welt gehen.

Ein Kapitel Münchner Stadtgeschichte

Drei italienische Journalisten klingeln sich durch die Klingelschilder des Wohnhauses gegenüber des Daches, von dem aus der Täter den Satz "Ich bin Deutscher!" gerufen hat, und: "Ich muss eine Waffe kaufen!". "Verzeihung", tippt jemand der Reporterin, die die Szene befangen beobachtet, auf die Schulter, "ist das hier das Dach? Wo der stand?"

Hildegard ist 71 Jahre alt. In den Siebzigern ist sie hierher gezogen - wenige Jahre nach der blutigen Geiselnahme während der Olympischen Spiele. Jetzt wandern ihre Gedanken zwischen Nizza, Kabul und der eigenen Nachbarschaft hin und her, von den Familien der Opfer bis zum Täter: "So ein junger, hübscher Mann, der das Leben vor sich hatte. Warum tut so einer das?" fragt sie, als könne irgendwer die eine, einfache Antwort geben, die alles erklärt.

Blumen für die Opfer des Amoklaufs in München (Foto: DW/Schmeller)
Blumen für die Opfer des Amoklaufs in MünchenBild: DW/J. Schmeller

Da öffnet sich die Tür des Wohnhauses. Die italienische TV-Crew drängelt hinein. Hildegard fährt lieber in die Innenstadt, um sich den Bierumzug anzusehen. Nächste Woche kommt ihre 81-jährige Schwester aus Kanada: "Dann werden wir auch hierher gehen!" Die grauen Haare fallen lang über ihre Schultern, ihre hellen Augen sind wach, die Stimme klingt fest: "Sowas kann schließlich überall passieren."