Münster und der Missbrauch einer Amokfahrt
9. April 2018Angst, so sagt man, sei kein guter Ratgeber. Vielleicht lässt sich gerade deshalb mit Angst so einfach Politik machen. Vor allem mit der Angst vor Terroranschlägen. Der tragische Zwischenfall von Münster zeigt: Auch die Amokfahrt eines psychisch kranken Mannes wird politisch instrumentalisiert. Obwohl es sich eben gerade nicht um einen Terroranschlag handelt.
Zunächst einmal: Für die Angehörigen der zwei Opfer, die Jens R. auf seiner Amokfahrt mit dem Campingbus mit in den Tod riss, macht es keinen Unterschied, ob sie ihre Lieben wegen eines Unfalls, eines Anschlags oder wegen der tragischen Tat eines selbstmordgefährdeten Menschen verloren haben.
Sucht nach Aufmerksamkeit
So traurig dies auch ist: Für die politische Bewertung hingegen macht es sehr wohl einen Unterschied, ob mit der Todesfahrt ein ideologisches Programm verfolgt wurde oder ob sich eine obskure Terrorgruppe ins Licht der Öffentlichkeit katapultieren wollte. Im Falle eines Anschlags schwenkt der politische Betrieb in den Krisenmodus um. Kritische Blicke richten sich auf Polizei und Sicherheitskräfte. Es schlägt die Stunde derer, die mehr Mittel für Sicherheitskräfte und schärfere Gesetze fordern. Oft schlägt auch die Stunde derer, die ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht stellen, etwa Ausländer und Muslime.
Wenn erkennbar jemand mit Absicht in eine Menschenmenge rast, dann ist es bis nach den Anschlägen von Nizza im Juli 2016, im Dezember 2016 in Berlin und im April 2017 in London kein Wunder, wenn viele Menschen an einen Anschlag mit islamistischem Hintergrund denken. Dies geschah auch am Samstag in Münster.
Die Rheinische Post etwa titelte um 16:15 Uhr in ihrer Online-Ausgabe "Anschlag in Münster – drei Tote" und war damit als eines der ersten Medien, die in die Berichterstattung eingestiegen. Erst fünf Minuten zuvor hatte dpa in einer Meldung auf die Amokfahrt hingewiesen und kam erst um 16:29 Uhr mit einer eigenen Meldung heraus. Diese war ausgesprochen nüchtern formuliert und enthielt weder die Worte Terror noch Anschlag.
Vorschnelle Rituale
In der Politik kamen schnell die mittlerweile – leider – eingeübten Rituale zum Tragen: Der Bundespräsident, die Kanzlerin, mehrere Minister meldeten sich zu Wort, erklärten ihre Erschütterung und Bestürzung – zu einem Zeitpunkt, als so gut wie nichts über den Täter bekannt war. Ein Verkehrsunfall mit dem gleichen tragischen Ausgang hätte wohl kaum so viel Aufmerksamkeit verursacht.
Die rechtspopulistische AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch stieg zu einem extrem frühen Zeitpunkt in die Schuldzuweisung ein und insinuiert um 16:39 Uhr in einem Tweet, nur ein Migrant könne hinter der Tat stecken. Bundeskanzlerin Angela Merkel trage wegen ihrer Flüchtlingspolitik die Schuld daran.
Als sich kurz vor 19:00 Uhr herausstellte, dass nicht ein radikalisierter Migrant muslimischen Glaubens den Campingbus in die Menge gesteuert hatte, sondern ein 48-jähriger Deutscher mit psychischen Problemen und ohne erkennbare Verbindung zu extremistischen Gruppierungen, religiös oder politisch, machte sich bei vielen Politikern und Medienvertretern Erleichterung breit.
Erdogan hetzt mit
Ein von der ARD für Samstag-Abend eilig angeschobener "Brennpunkt" wurde wieder abgesagt. Allerdings ohne die bereits zuvor verbreiteten Ankündigungen richtig zustellen.
Dennoch ist die politische Diskussion damit noch lange nicht vorbei – und schon gar nicht die politische Instrumentalisierung des Dramas.
Besonders der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan fällt dabei auf: Unter offensichtlicher Anspielung auf Münster griff Erdogan seinen französischen Amtskollegen Emmanuel Macron an: "Ihr seht doch, was die Terroristen in Deutschland machen, oder? Das wird auch in Frankreich geschehen. Ihr werdet sinken, solange der Westen diese Terroristen nährt", sagte der türkische Staatschef am Samstag.
Hintergrund für Erdogans Angriff: Macron hatte kürzlich Vertreter der syrischen Kurdenmiliz YPG empfangen. Und: Am Samstag hatten Kurden in Münster gegen den türkischen Krieg in Nordsyrien demonstriert. Womit für Ankara die Schuld an dem Vorfall auf die aus seiner Sicht "üblichen Verdächtigen" fiel: Die Kurden.
Andenken an die Opfer? Fehlanzeige
Aber auch in Deutschland wurde munter weiter gehetzt: Auch nachdem klar war, dass die Tat von Münster keinen terroristischen Hintergrund hat, wetterte AfD-Politikerin von Storch in ihren Tweets weiter und sprach von einem "Nachahmer islamistischen Terrors". Der wütende und teilweise giftige Schlagabtausch zwischen der AfD und ihren Gegnern ging in die nächste Runde. Andenken an die Opfer? Fehlanzeige.
Unterdessen begab sich der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime mit einem Tweet in die Opferrolle. Aiman Mazyek beklagte einen "Doppelstandard" in der Terrordiskussion: Wären die Täter deutsch, bezeichnete man sie als psychisch krank. Muslimische Täter hingen würden als Terroristen eingestuft. Mazyek erntete heftigen Widerspruch und Verweise darauf, dass auch Terror von rechts als "Terror" gebrandmarkt würde.
Münster und die Münsteraner sind geradezu vorbildlich mit dem Vorfall umgegangen. Sie haben Ruhe bewahrt; haben Trost und Hilfe gespendet. Doch der Eindruck bleibt: Die mit Terror und Angst verbunden Emotionen sind Kräfte, die allzu viele für ihre Zwecke mobilisieren wollen.