70 Jahre Nürnberger Urteile
1. Oktober 2016Am 1. Oktober 1946 war es soweit: Zwölf der 22 Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt, sieben mussten ins Spandauer Kriegsverbrechergefängnis, drei wurden freigesprochen. Es war nicht nur der Schlusspunkt eines Großprozesses, bei dem 2630 Dokumente vorgelegt und 270 Zeugen gehört worden waren - alles aufgezeichnet auf 27.000 Metern Tonband und 7000 Schallplatten. Es war auch der Abschluss einer juristischen Weltpremiere. Ein internationales Militärtribunal hatte Recht gesprochen.
Nie zuvor hatten Despoten die Erfahrung gemacht, dass es über ihnen ein Recht gibt. Hitlers Führungsriege musste sich im Namen des Völkerrechts ausgerechnet in Nürnberg, Stadt der Parteitage und großer Propagandaschauen der Nazis, verantworten. Nicht, weil sie einen Krieg verloren, sondern weil sie ihn begonnen hatten. Juristisch war der Prozess Neuland. Ohne eine Grundsatzeinigung der Alliierten darüber, wie denn die verschiedenen Rechtssysteme der Siegermächte in Einklang zu bringen seien, wäre Nürnberg gar nicht möglich gewesen.
Juristisches Neuland
Also mussten zuvor Grundlagen geschaffen werden. Und die wurden in London ein Jahr vorher festgelegt. Es war die Ouvertüre für Nürnberg. Am 8. August 1945 unterschrieben die Siegermächte die "Londoner Charta". Ein Völkerrechtsvertrag, der die Prozessordnung festlegte, um die Nürnberger Verfahren überhaupt erst möglich zu machen. Die sechswöchigen Beratungen müssen chaotisch gewesen sein, berichten Teilnehmer. Auch formal: Ein quadratischer Tisch war dabei ganz wichtig, denn jede der vier Siegermächte sollte eine gleichstarke Delegation platzieren können.
Es war die Idee der Amerikaner, den führenden Nazis den Prozess zu machen. Sie waren die treibende Kraft. Sie hatten schon mitten im Krieg Geheimdienstkenntnisse über die Verbrechen, die Deutsche und ihre Verbündeten in Osteuropa gegen Zivilisten begingen. Robert Kempner, einer der Ankläger in Nürnberg, sah sich schon lange vor dem Prozess der Frage ausgesetzt, wie man diese Verbrechen jemals werde beweisen können. In Nürnberg stellte sich dann heraus, dass die Beweisführung gar nicht das Problem war, da die Nazis bürokratisch penibel Buch geführt hatten über ihre Gräueltaten. Also gleich aburteilen? Stalin soll angeblich schon 1943 auf der Teheraner Konferenz der Siegermächte für kurzen Prozess votiert haben. Nämlich die 50.000 wichtigsten Nazis zusammen zu treiben und zu erschießen.
Die Londoner Charta und die Grundsätze des Rechts
Letztlich blieb es beim Ziel, einen großen Prozess zu machen und keinen kleinen. Geeinigt hatte man sich in London auf zentrale Anklagepunkte: Planung und Durchführung eines Angriffskrieges, Verletzung der Kriegsgesetze (also Kriegsverbrechen) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Letzterer wurde in London überhaupt erst als juristische Kategorie geboren. Die vier Siegermächte schufen damit eine neue Völkerrechtsordnung, die die Grundsätze des Westfälischen Friedens von 1648 (Ende des 30jährigen Krieges) ablösten.
Bis dahin durften souveräne Staaten mit ihren Bürgern tun und lassen was sie wollten. Und Kriege konnten sie so lange führen, solange sie sich stark genug dafür hielten. Mit der Londoner Charta und den Nürnberger Prozessen wurde dieser Rechtsauffassung ein Ende gesetzt. Robert Jackson, der US-Chefankläger in Nürnberg, der sich der Rückendeckung seines Präsidenten Harry Truman sicher war, hatte großes im Sinn: "Die Ordnung der Welt nach den Grundsätzen des Rechts."
Der Prozess
Es war ein Vorhaben ohne Garantie. Noch bei den Verhören glaubte Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und prominentester Nazi auf der Nürnberger Anklagebank, juristisch unangreifbar zu sein. "Alles, was in unserem Land geschah", höhnte er, "geht Sie nicht im mindesten etwas an." Im Sinne der Anklage erklärte er sich für nicht schuldig, weitere Einlassungen verweigerte ihm das Gericht. Hans Frank, Generalgouverneur in Polen, brachte das juristische Dilemma auf den Punkt: es sei unmöglich, dem "Hitlerismus" mit legalen Mitteln zu begegnen. "Hitler selbst hat sich doch außerhalb jeder Rechtsordnung gestellt", gab er selbstsicher zu Protokoll. Einschätzungen wie diese ließen auch bei Winston Churchill Zweifel am Nürnberger Vorhaben aufkommen. Seine Empfehlung: Nazis, derer man habhaft werde, sollten "ohne Überweisung an eine höhere Gewalt erschossen " werden.
Und nicht nur juristisch fühlten sich die Angeklagten sicher. Wie ein roter Faden zieht sich durch fast alle Aussagen der Versuch, eigene Schuld zu relativieren, bzw. glatt zu verneinen und sich stattdessen hinter Hitler zu verstecken, wie Johann Schätzler, der damalige Assistent der Verteidigung von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, später berichtete. Diese anfängliche Strategie verlor sich im Laufe des Prozesses nachdem Aussagen von Überlebenden die Ungeheuerlichkeit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis bezeugt hatten.
Die Konfrontation mit dem Geschehenen hinterließ Spuren: Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister wollte kooperieren und schrieb Chefankläger Jackson einen Brief. Hans Frank, der in Polen gewütet hatte, wurde in der Zelle religiös und ließ sich taufen, Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter gab vor, sein Gedächtnis verloren zu haben. Nur Hermann Göring spielte seine Rolle konsequent bis zuletzt: großsprecherisch, uneinsichtig, eitel. Am Ende sogar feige. Er entzog sich seiner Hinrichtung durch Selbstmord.
Von Nürnberg nach Den Haag
Am 1. Oktober 1946 beendete der britische Lordrichter Geoffrey Lawrence nach Verlesung der Urteile ohne ein Schlusswort den Jahrhundertprozess. Die Hoffnung unter Straf- und Völkerrechtlern war groß, für die Zukunft gegen internationale Verbrechen juristisch gewappnet zu sein. Doch diese Erwartung blieb unerfüllt. Was nicht zuletzt eine Folge des beginnenden Kalten Krieges war. Erst in den Jahren 1989 bis 91 änderte sich das.
Die Verbrechen gegen Zivilisten in Jugoslawien und Ruanda führten dazu, die Idee einer Ahndung von internationalen Massenverbrechen wieder zu verfolgen. In Den Haag wurden die Tribunale für Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) geschaffen, ebenso die Konvention über den Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Doch die Neubelebung eines internationalen Strafgerichts wurde erheblich verwässert. Zum einen mangelte es an Unterstützung vieler Staaten, zum anderen weigerten sich die USA, China und Israel, das Statut des ICC zu ratifizieren.
Aus diesen Gründen ist noch nicht klar, ob die Urteile des ICC jemals so positiv bewertet werden, wie die Urteile von Nürnberg. Aber jenseits von juristischen Überlegungen, so der Historiker Karl Dietrich Erdmann, gab es einen internationalen Konsens darüber, dass in Nürnberg "Recht geschehen" war.