Die Nürnberger Prozesse
7. August 2015Die Nürnberger Prozesse waren der Beginn einer neuen Ära der Gesetzgebung und internationalen Zusammenarbeit. Ihre Grundlage war ein visionärer Völkerrechtsvertrag (Londoner Charta), der die Prozessordnung für die internationalen und amerikanischen Militärgerichtshöfe festlegte, die extra für die Nürnberger Prozesse ins Leben gerufen wurden. Die Londoner Charta wurde am 8. August 1945 unterschrieben - vor genau 70 Jahren.
Am 24. November 1945, in einer Stadt, die wenige Monate zuvor als "90 Prozent tot" eingestuft wurde, betraten 22 Männer den Nürnberger Justizpalast. Sie standen vor Gericht für Verbrechen, die es so zuvor noch nie gegeben hatte.
Die Männer gehörten zu dem, was von der Nazi Führungsriege noch übrig war, und hatten die vergangenen Monate eingesperrt in einem Schloss in Luxemburg verbracht. Sie wussten nicht, was sie erwartete.
Einige von ihnen rechneten damit, sofort hingerichtet zu werden, andere empfanden es als Beleidigung, überhaupt festgenommen worden zu sein. Das Alphatier unter ihnen war Hermann Göring, der ehemalige Präsident des Reichstags, Oberbefehlshaber der Deutschen Luftwaffe und möglicher Nachfolger Adolf Hitlers.
Noch im Juli 1945 hatte Göring eine Pressekonferenz gegeben, auf der er gefragt wurde, ob er wisse, dass er auf der Liste der Kriegsverbrecher stehe. Seine Antwort: "Nein. Die Frage erstaunt mich, weil ich mir nicht vorstellen kann, warum ich da drauf stehen sollte."
Göring hatte keine Ahnung von dem enormen, komplizierten Prozess, von dem er ein Teil sein würde. Für das Gerichtsverfahren mussten Grundlagen, Anklagepunkte und Bestrafungen komplett neu aufgestellt werden. Der Aufbau ähnelte ein wenig dem des Strom-, Wasser und Abwassernetzes in Deutschland, mit dem die Alliierten von Null beginnen mussten. So etwas wie diesen Gerichtsprozess hatte es noch nie gegeben.
Ein riesiger Schritt für internationale Gerichtsbarkeit
Die Nürnberger Prozesse und die Londoner Charta waren von großer, visionärer Bedeutung, sagt Lauri Mälksoo, Professor für Völkerrecht an der Universität von Tartu in Estland.
"Es gibt nichts Wichtigeres auf diesem Feld", sagte Mälksoo der DW. "Der Einfluss darauf, wie internationale Verbrechen definiert werden, war riesig - so wurde der Begriff 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' praktisch erfunden."
Die Londoner Charta war das Ergebnis von sechs Wochen anstrengender, chaotischer Verhandlungen, die sich nach dem Sieg der Alliierten um einen quadratischen Tisch in London abspielten. Die quadratische Form war ein Muss, damit alle vier Alliierten Mächte eine gleichgroße Delegation schicken konnten, schreiben Ann und John Tusa in ihrem Buch über die Nürnberger Prozesse von 2010, "The Nuremberg Trial".
Die Briten waren die Gastgeber und standen den Verhandlungen vor, aber es bestand kein Zweifel daran, welche der vier Mächte das Ganze wirklich vorantrieb - die USA hatten die Idee gehabt, die führenden Nazis vor Gericht zu stellen.
Die europäischen Alliierten tendierten zu direkteren Bestrafungen. Der sowjetische Premierminister Joseph Stalin schlug während einer feuchtfröhlichen Verhandlungspause auf der Teheran Konferenz 1943 angeblich vor, die 50.000 obersten Nazis zusammenzutreiben und zu erschießen.
Für die USA, speziell für den idealistischen Richter Robert H. Jackson, war der Aufbau eines Gerichts für die grausamsten Verbrecher ihrer Zeit eine historische Gelegenheit. "Es wird höchste Zeit, dass wir nach dem rechtlichen Prinzip, wonach aggressive Kriegstreiberei illegal und kriminell ist, auch handeln", schrieb Jackson in einem Bericht an US-Präsident Harry Truman während seiner Vorbereitung für die Londoner Konferenz.
Zwei Rechtssysteme, ein Prozess
Aber die Wochen in London zogen ins Land und Jackson versank in einem rechtlichen Gerangel um die beste Prozessführung. Das größte Problem: in den USA und im Vereinten Königreich galt das sogenannte Common Law und in Russland und Frankreich, sowie im größten Teil Kontinentaleuropas wie zum Beispiel Deutschland, das Civil oder Continental Law.
Sollte die Anklageschrift in einer ersten Fassung von der Staatsanwaltschaft vorgetragen und die Beweise während des Prozesses eingebracht werden, so wie im Common Law? Oder sollte die komplette Anklageschrift mit allen Beweisen der Staatsanwaltschaft von einer separaten Gruppe vorbereitet werden und dann der Staatsanwaltschaft und Verteidigung zur Verfügung gestellt werden, so wie im Continental Law? Sollten die Richter das Recht haben, einzugreifen und den Prozess leiten so wie im Continental Law, oder sollten die Anwälte beider Seiten über die Vorgänge entscheiden und die Angeklagten sowie Zeugen im Kreuzverhör vernehmen so wie im Common Law?
Diese Fragen mögen klein erscheinen im Vergleich zu den Verbrechen, um die es ging, aber sie zeigen, wie tief das Misstrauen zwischen den zwei Seiten in London bereits ging - ein Misstrauen, das der Vorreiter der Paranoia im Kalten Krieg war.
Jackson, der der leitende Staatsanwalt der Nürnberger Prozesse werden sollte, und sein russisches Pendant General Iona Nikittschenko, der ein Richter bei dem Verfahren werden sollte, verwickelten sich häufig in rechtliche Missverständnisse, die in Streitigkeiten eskalierten. Beide Seiten unterstellten der jeweils anderen bösartige Absichten.
Aber, wie Mälksoo sagte, "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Man kann es schon eine Leistung nennen, dass die zwei rechtlichen Traditionen zu einer Einigung kamen, in einem Fall, bei dem Meinungsverschiedenheiten so offensichtlich waren."
Idealbild und Wirklichkeit
Am Ende der Londoner Charta-Verhandlungen einigte man sich auf vier Anklagepunkte gegen die 22 Naziverbrecher: Verbrechen gegen den Frieden, Gemeinsamer Plan oder Verschwörung, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Auf den ersten Blick scheinen sie alles abzudecken, aber Jackson vermisste zwei Schlüsselpunkte, die er gern für die Zukunft festgeschrieben hätte. Er wollte, dass Krieg an sich als universelles Verbrechen definiert wird und dass die Grundlagen, die in Nürnberg festgelegt wurden, später für alle Seiten gelten sollten.
Doch Jacksons Traum erfüllte sich nicht: Nürnberg blieb ein ausschließlich militärisches Tribunal, dass speziell entstanden war, um das Nazi Regime vor Gericht zu stellen.
Damals wie heute ist internationales Strafrecht nicht frei von Politik. So wie es die Prinzipien der Londoner Charta direkt in den Internationalen Gerichtshof in Den Haag geschafft haben, sind auch die Fehler dort gelandet.
"Einer der Kritikpunkte am IGH (Internationaler Gerichtshof) ist, dass er sich realistischer Weise wahrscheinlich nie mit US- oder mit russischen Kriegsverbrechen beschäftigen wird, wegen des Standes, den diese beiden Länder im UN Sicherheitsrat und in der Weltordnung innehaben", sagte Mälksoo. "Das Problem bleibt: Gilt dieses Recht auch für die großen Mächte? Praktisch gesehen nicht wirklich."
Menschlichkeit als rechtliches Prinzip
Trotz der komplizierten politischen Wirklichkeit ist die Bedeutung der Charta von 1945 nicht zu leugnen.
"Die Londoner Charta war ein großer kultureller Schritt nach vorn", sagte der deutsche Historiker Ingo Müller im DW-Gespräch. Man vergesse leicht, dass Deutschland nicht immer so bereit war, die Prinzipien, für die die Charta steht, zu akzeptieren.
"Es gab richtig Widerstand in Deutschland gegen die Nürnberger Prozesse, besonders von Juristen", so Müller. "Die deutsche Judikative erkannte die Verurteilung nicht an und als die alten Nazis freikamen, hatten sie keinerlei Vorstrafeneinträge. Also bekamen sie natürlich alle ihre Militärrente - inklusive Nachzahlungen."
Müller ist aber auch optimistisch.
"Die Lektion von Nürnberg war, dass Völkerrecht durchgesetzt werden kann", sagte er. "Natürlich ist die Schwäche des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (IGH), dass die wirklich Mächtigen - die USA, China - ihn nicht anerkennen. Aber ich glaube, dass er unser globales Gewissen beeinflusst."