Schwenkt die US-Außenpolitik auf Südostasien?
7. September 2021Der schmachvolle Abzug der US-Truppen aus Afghanistan hat scharfe Kritik nach sich gezogen - und die Frage aufgeworfen, wie die USA in Zukunft ihren Status einer Supermacht erhalten wollen.
In Südostasien hat Washington längst begonnen, regionale Bündnisse in direkter Konkurrenz zu China zu schmieden. Erst kürzlich war US-Vizepräsidentin Kamala Harris in Singapur und Vietnam unterwegs. Ihre Mission: die Beziehungen der USA in die Region zu festigen.
Diese Reise wurde dann jedoch überschattet vom wohl größten außenpolitischen Debakel der USA seit Jahrzehnten. Mehrere südostasiatische Regierungen sahen sich als Konsequenz des US-Abzugs gezwungen, ihre Bürger in Windeseile aus Afghanistan auszufliegen. Dazu kommt die Sorge, dass der Machtgewinn der Islamisten in Afghanistan auch die Terrorgefahr in Südostasien erhöhen könnten.
US-Engagement unter Beobachtung
Singapurs Premierminister Lee Hsein Loong sagte am 23. August bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Harris, was die USA als nächstes unternähmen, werde beeinflussen, wie "Entschlossenheit und Engagement der USA in der Region" wahrgenommen würden.
In den Jahrzehnten nach dem Vietnamkrieg wurde das US-Interesse an Südostasien in außenpolitischen Kreisen als Ausdruck "wohlwollender Vernachlässigung" wahrgenommen. In jüngerer Vergangenheit hat sich das gewandelt: 2011 rief die Regierung unter dem damaligen Präsidenten Barack Obama einen "Schwenk nach Asien" aus. Das hing mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Region zusammen, aber auch mit einem forscher auftretenden China.
"In Südostasien gab es immer eine gewisse Furcht vor einer starken US-Präsenz in der Region", sagt Bonnie Glaser, Leiterin des Asien-Programms beim German Marshall Fund der USA. "Ich glaube aber nicht, dass Afghanistan daran allzu viel ändert."
Die Vereinigten Staaten sind für die meisten südostasiatischen Regierungen ein wichtiger Partner in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen. Mit Thailand und den Philippinen besteht ein Bündnisvertrag, und auch mit Singapur und dem inzwischen wichtigen Partner Vietnam gibt es eine enge militärische Zusammenarbeit.
Washington hat sich im Territorialstreit mit China um Gebiete im Südchinesischen Meer auf die Seite von Vietnam, Malaysia und Indonesien geschlagen. Im Lichte des eiligen Abzugs aus Afghanistan zweifeln jedoch einige Regierungen, ob die USA ihnen wirklich zu Hilfe eilen würden, sollte ein bewaffneter Konflikt mit China ausbrechen.
Südostasien ist nicht Afghanistan
Zumeist sind sich südostasiatische Regierungen bewusst, dass die US-Interessen sich in der Region stark von jenen unterscheiden, die Washington anderswo durchzusetzen versucht. Die Intervention in Afghanistan etwa drehte sich um die Bekämpfung von Terrorismus und um das sogenannte Nationbuilding, also die Unterstützung beim Aufbau eines rechtsstaatlich-demokratischen Staatswesens. In Südostasien ist kein Nationbuilding erforderlich, dort kann Washington die bestehenden Allianzen mit stabilen Staaten weiter vertiefen.
In Afghanistan hatten es sich die USA selbst auferlegt, einen großen Beitrag zur inneren Sicherheit zu leisten, und dem schwachen und verarmten Staat auch finanziell unter die Arme zu greifen. Auch das ist nicht mit Südostasien vergleichbar, denn dort sitzen einige der Nationen mit dem ausgeprägtesten Wirtschaftswachstum weltweit, von dem auch amerikanische Unternehmen profitieren können. Die Region ist Daten der US-Regierung zufolge Amerikas viertgrößter Handelspartner.
Mehr US-Aufmerksamkeit für Südostasien?
Einige Analysten in Südostasien beobachten nun, ob der Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan dazu führt, dass die USA sich in anderen Schlüsselregionen stärker engagieren. "Die Biden-Regierung hat ihre Arbeit auf mit der Aussage aufgenommen, man wolle den Fokus von Zentralasien und dem Nahen Osten in Richtung des Indopazifik verlegen", sagt Chong Ja Ian, Professor für Politikwissenschaft an der Staatlichen Universität von Singapur. "Der Abzug aus Afghanistan war Teil dieses Plans, auch wenn er schlecht durchgeführt wurde", so Chong im DW-Gespräch.
Für Regierungen in Südostasien komme es jetzt darauf an, wie schnell die USA nun der Botschaft Nachdruck verleihen, dass der Indopazifik Herzstück der amerikanischen Außenpolitik sei, sagt Chong. "Sollte der Rückzug von Afghanistan zu einer effektiveren und robusteren Präsenz der USA in Südostasien führen, wären die USA in der Lage, den Spielraum ihres Engagements auszudehnen und jedweden chinesischen Einfluss auf ihr Handeln in der Region zu begrenzen", fügt er an.
Einige südostasiatische Regierungen zeigten sich zum Ende der Trump-Präsidentschaft verwirrt über dessen Haltung - vor allem, als der ASEAN-Gipfel 2019 ohne hochrangige Vertreter der USA abgehalten werden musste. Auch in den ersten Monaten unter Joe Biden gab es Beschwerden, die USA hätten ihr Interesse an der Region verloren. Das war vermutlich der Grund für Harris' Reise Ende August.
Vor ihrer Abreise erklärte Harris' Büro, es gehe darum, "auf der Botschaft der Regierung Biden/Harris aufzubauen: Amerika ist zurück". Vor Ort in Singapur bekräftigte die Vizepräsidentin: "Unsere Partnerschaften mit Singapur, Südostasien und der gesamten Indopazifik-Region haben oberste Priorität für die Vereinigten Staaten."
Bereits Ende Juli besuchte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Singapur, die Philippinen und Vietnam. Im Mai reiste Vize-Außenministerin Wendy Sherman nach Indonesien, Thailand und Kambodscha. Ihr Vorgesetzter Antony Blinken hat kürzlich an Ministertreffen der ASEAN-Gruppe teilgenommen.
Macht der Abzug aus Afghanistan diese vertrauensbildenden Maßnahmen wieder zunichte? Auf jeden Fall trägt er zur Unsicherheit über das Engagement der USA bei, glaubt Yun Sun, Ko-Direktorin des Ostasien-Programms am Stimson Center in Washington. "Doch die Region ist generell überzeugt, dass die USA Südostasien nicht verlassen können", sagt Sun im DW-Gespräch.
Neue Allianzen gegen China
Dazu kommt der Faktor, dass die Region ein entscheidender Schauplatz der Rivalität zwischen Washington und China ist. "Aus US-amerikanischer Sicht ist es unrealistisch, Südostasien mit seinen geografischen, wirtschaftlichen, historischen und gesellschaftlichen Verbindungen in die USA zu verlassen - die nun durch den Wettstreit mit China verkompliziert werden. In diesem Kontext ist Südostasien das Epizentrum des Wettstreits."
Dabei geht es nicht nur um die strittigen Inseln, deren Besitzer weite Teile des Südchinesischen Meers inklusive Bodenschätze kontrollieren könnten. Auch über das Wasser des Mekong, der von China entlang der Grenze zwischen Thailand und Laos und bis nach Kambodscha und Südvietnam fließt, ist zum Streitobjekt geworden. Diese beiden Faktoren garantieren den regionalen Regierungen die Aufmerksamkeit aus Washington.
"Südostasien will, dass die USA und China um seine Aufmerksamkeit buhlen, doch die Staaten in der Region widerstehen dem Druck, sich für einen der beiden zu entscheiden", sagt Sun. Manche Regierungen fürchteten jedoch, "dass die USA sich nur wegen China für sie interessieren", sagt die Analystin. Das amerikanische Durchhaltevermögen in der Region könnte also abnehmen, glaubt Sun, sollte Washington China irgendwann nicht mehr als wichtigen Rivalen ansehen.
Adaptiert aus dem Englischen von David Ehl.