Bombenanschlag löst Kritik aus
14. November 2022Seit Jahren wurde die Türkei nicht mehr so erschüttert wie am Sonntag. Mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße mitten in Istanbul, ist eine Bombe explodiert. Mindestens sechs Menschen wurden dabei getötet, 81 weitere wurden verletzt.
Der Bombenanschlag erinnert an vergangene Anschläge, die Bilder aus 2015 und 2016 sind im kollektiven Gedächtnis der Türken noch frisch. Damals wurden in der Türkei mehrere Bombenschläge verübt, innerhalb von 146 Tagen kamen insgesamt 862 Menschen ums Leben - und das mitten in der Zeit von zwei Parlamentswahlen und einem Militärputschversuch. Mit Blick auf die Umfragen konnte die regierende AKP unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Situation damals für sich nutzen - und eine kurz zuvor verlorene Mehrheit wiedererringen. Die Tatsache, dass es jetzt - rund sieben Monate vor der nächsten Wahl - erneut einen Bombenanschlag gegeben hat, nährt Spekulationen.
Auf der Istiklal-Straße hat man am Montag Hunderte Türkei-Fahnen aufgehangen, die die Einheit gegen den Terror symbolisieren sollen. Doch die türkische Gesellschaft ist tief gespalten, bei der Türkei-Wahl am 18. Juni 2023 könnte es knapp werden für Erdoğan. In einer Umfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Yöneylem gaben 58 Prozent aller Befragten an, bei der Wahl "auf keinen Fall" für ihn stimmen zu wollen.
Vorwarnung für den Wahlabend
Doch nicht nur der Anschlag selbst, sondern auch der Umgang damit hat die Menschen aufgeschreckt. Die türkische Rundfunk-Aufsichtsbehörde RTük hatte noch am Sonntagnachmittag eine Nachrichtensperre verhängt. Man wolle Angst und Panik vermeiden. Türkische Sender unterbrachen daraufhin die Berichterstattung über die Explosion. Soziale Medien wie Facebook, Instagram und Twitter funktionierten zeitweise nur eingeschränkt.
Im Gespräch mit der DW warnen Experten vor einem ähnlichen Szenario am Wahlabend in rund sieben Monaten. "Am Wahlabend könnte man nach der Anweisung der Wahlkommission den Zugang zu allen Social-Media-Kanälen einschränken. Das Internet in der ganzen Türkei könnte sogar verboten werden", kritisiert Faruk Çayır, Anwalt und Vertreter vom Verband für Alternative Informationstechnologien. Es gebe kein Gesetz, das dies eindeutig verhindern könnte.
Kommunikationsberater Mehmet Şafak Sarı fürchtet erhebliche Folgen. "Wenn Sie die Social-Media-Netzwerke einschränken, die Menschen für Kommunikation und Informationszwecke brauchen, drängen Sie die Menschen eigentlich zu einer unfassbaren Angst und Panik", so Sarı gegenüber der DW. Er warnt davor, dass Ähnliches am Wahlabend geschehen könnte: "Menschen sagen: 'Wenn ich kein Social Media haben kann, ist etwas Schlimmes passiert.' Stellen Sie sich vor, dass wir die sechs- bis siebenstündige Panik, die wir nun erlebt haben, am Wahlabend erleben."
Türkei macht die PKK verantwortlich
Die mutmaßliche Attentäterin wurde inzwischen festgenommen, die Bilder der Festnahme auf den offiziellen Social-Media-Kanälen verbreitet. Außerdem sollen über 40 weitere Personen unter dem Verdacht der Komplizenschaft in Polizeigewahrsam sein. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte indes, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte.
Die Türkei betrachtet die YPG als den syrischen Zweig der PKK, der Kurdischen Arbeiterpartei, die in der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Innenminister Süleyman Soylu warf Washington deshalb erneut vor, "Terrororganisationen" zu unterstützen. Der Anschlag sei von der PKK verübt worden und die PKK werde von den USA unterstützt. "Wir lehnen die Beileidsbekundung der amerikanischen Botschaft ab", so Soylu. Man müsse darüber diskutieren, ob ein Staat, dessen Senat nach Kobane Geld schickt, ein guter Verbündeter sei. Kobane wurde international bekannt, als die YPG die Stadt gegen den IS verteidigte. Die Türkei ist schon länger frustriert darüber, dass die USA in Syrien im Kampf gegen den IS mit den kurdischen Milizen zusammenarbeiten. Mit der angeblichen Unterstützung für die YPG etwa hatte Ankara auch das Veto für die Nato-Norderweiterung um Schweden und Finnland begründet.
In der türkischen Öffentlichkeit wird auch darüber diskutiert, dass der Bombenanschlag als Anlass für eine bereits angekündigte türkische Militäroperation in Syrien dienen könnte. Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen seien, hätten türkische Beamte für eine neue Militäroperation in Nordsyrien plädiert, sagt Berkay Mandirici von der International Crisis Group. Präsident Erdogan hatte vor einigen Monaten wiederholt gesagt, dass die Türkei "eines Nachts plötzlich kommen" könnte. Er hat auch betont, dass seine Regierung die Sicherheitsbedenken seines Landes "mit neuen Operationen beheben" wolle.
Mögliche Auswirkungen auf die Wirtschaft
Der Anschlag vom 13. November könnte auch wirtschaftliche Auswirkungen haben - wenn verschreckte Touristen wegbleiben, genauso wie vor einigen Jahren. Dabei befindet sich die Türkei momentan schon in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die jährliche Inflationsrate beträgt nach offiziellen Angaben über 85 Prozent - und das könnte noch geschönt sein. Die ENAG, die sogenannte Gruppe für Unabhängige Inflationsforschung, glaubt, dass die Inflationsrate in der Realität bei über 185 Prozent liegt.
Mitarbeit: Burcu Karakaş