Nach den Angriffen auf Polizei und Feuerwehr an Silvester
3. Januar 2023Allein die Berliner Feuerwehr meldete in der Silvesternacht 38 Vorfälle mit Gewalt, darunter 14 Fälle, in denen Feuerwehrfahrzeuge "in einen Hinterhalt gelockt", mit Feuerwerkskörpern beschossen und mit Bierkästen beworfen worden sein sollen.
Das Ausmaß der Aggression gegenüber Einsatzkräften sei völlig unerwartet gewesen, sagte der Sprecher der Berliner Feuerwehr Thomas Kirstein dem Sender RBB. Insgesamt wurden in Berlin 15 Rettungskräfte verletzt, einer davon musste im Krankenhaus behandelt werden. Die Berliner Polizei teilte mit, dass 41 ihrer Beamten verletzt worden seien.
Die Berliner Feuerwehr zeigte sich "schockiert und traurig" über die Vorfälle, die viele zu der Frage veranlassten, was hinter der offensichtlichen Zunahme der Gewalt gegen Einsatzkräfte steckt und warum gerade sie zur Zielscheibe geworden sind. Auf Twitter teilte die Berliner Feuerwehr Videomaterial der Ereignisse.
"Tödliche Angriffe" auf Polizei und Rettungskräfte "extrem selten"
Der Polizeisoziologe Rafael Behr von der Hamburger Polizeiakademie sagte, die Vorfälle müssten im Detail analysiert werden, bevor Schlussfolgerungen gezogen werden könnten.
"Wir haben nicht wirklich einen guten Überblick über die Komplexität der Umstände der Gewalttaten. Wir haben Aussagen von Polizei- oder Rettungsdienstgewerkschaften und anderen Akteuren, die sagen, dass die Gewalt zunimmt". Das müsse noch genauer untersucht werden, sagte er der DW.
"Es ist natürlich sehr schockierend, von solchen Fällen zu hören, weil wir denken, dass die Rettungsdienste dazu da sind, Leben zu retten und Gutes zu tun. Wir sind nicht daran gewöhnt, dass sie auf die gleiche Weise angegriffen werden wie die Polizei, die oft mit Konfliktsituationen zu tun hat."
Das Bundeskriminalamt meldete 2021, dass die Zahl der Gewalttaten gegen Polizeibeamte im Vergleich zum Vorjahr um 689 Fälle auf 39.649 gestiegen sei. Seit 2012 seien die Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte um insgesamt 22,5 Prozent gestiegen.
Behr sagt, dass die Gesellschaft heute viel stärker für Gewalt sensibilisiert sei, insbesondere gegen Polizisten und Rettungskräfte. Auch Beleidigungen würden inzwischen als Gewalt eingestuft, was früher nicht der Fall gewesen sei.
"Wir wissen, tödliche Angriffe auf Polizei und auf Rettungskräfte finden sehr selten statt." Die Zahl schwerster Gewalttaten habe nicht zugenommen, die Zahl der Körperverletzungen habe "zugenommen, aber nicht dramatisch".
Während die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf Polizeibeamte in der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst wird, sind gewalttätige Vorfälle, an denen Angehörige von Rettungsdiensten beteiligt sind, nicht so gut dokumentiert. Die Zahlen werden oft mit denen der Polizeikräfte zusammengefasst; auch die genaue Definition von Gewalt unterscheidet sich von Erhebung zu Erhebung.
Gewalt durch junge Männer
Eine Konstante scheint die Tatsache zu sein, dass die Mehrzahl der Gewalttaten von Männern verübt werde, sagt Alfred Gebert, Professor für Psychologie und Soziologie an der Fachhochschule des Bundes in Münster.
Der Respekt vor Uniformträgern habe enorm abgenommen, vor allem bei jungen Männern zwischen 20 und 29 Jahren, analysiert Gebert im Interview mit der DW. Gerade wenn sie Alkohol getrunken hätten, wollten sie vor ihren Freunden angeben, angefangen mit Beschimpfungen. Es gebe das Versäumnis, jungen Menschen in den Schulen Respekt beizubringen - aber auch fehlende Konsequenzen für die Täter.
Auch Rafael Behr ist der Meinung, dass Gewalt Teil der Demonstration einer bestimmten Form von Männlichkeit ist: "Es hat sicher damit zu tun, wie einige junge Männer in der Öffentlichkeit gesehen werden wollen, bei der es oft um eine Demonstration von Stärke geht."
Aber, sagt Behr, die Tatsache, dass es sich um ein Problem unter jungen, alkoholisierten Männern handelt, bedeute, dass es von den Medien oft dramatisiert werde.
"Es gibt keine Hinweise auf eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt. Vielmehr gibt es immer wieder Ausbrüche von Gewalt in bestimmten Kontexten. Das passiert in allen Ländern, in denen es Großveranstaltungen gibt: Gesellschaftliche Normen und Gesetze werden gebrochen, vor allem wenn Alkohol im Spiel ist. Silvester ist besonders extrem, weil da auch noch Feuerwerk im Spiel ist." Für diesen Jahreswechsel hoben die Behörden das Pyrotechnik-Verbot der Corona-Pandemie auf, so dass zum ersten Mal wieder Böller und Raketen gezündet werden durften.
"Ich glaube nicht, dass die Gruppen von Männern, die diese Gewalttaten begehen, einen großen Einfluss auf die Gesellschaft haben", betont Psychologe und Soziologe Gebert. "Vielmehr glaube ich, dass die breite Gesellschaft diese Übergriffe völlig inakzeptabel findet und sich härtere Strafen für die Täter wünscht."
Die Gewerkschaft der Polizei in Deutschland hat härtere Strafen für Gewalttäter gegen Einsatzkräfte gefordert. Die Feuerwehr fordert den Einsatz von mehr Bodycams, um nachweisen zu können, dass es tatsächlich zu Gewalttaten gekommen ist.
"Das wäre mein Appell, mehr Daten zu sammeln und alles, was passiert ist, genau zu analysieren", sagte Behr der DW: "Ich würde davor warnen, jetzt in Panik zu verfallen und zu glauben, dass in Deutschland die Gewalt freien Raum hat. Aber die Zivilgesellschaft ist zerbrechlich."
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte, wer Polizei und Rettungskräfte angreife, "muss mit aller Härte des Gesetzes bestraft werden". Eine Gesetzesänderung schloss Faeser jedoch aus und verwies darauf, dass die bestehenden Regelungen bereits in den vergangenen Jahren verschärft worden seien.
Integrationsbeauftragte warnt vor Generalverdacht
Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPoIG), Rainer Wendt, sagte dem Magazin Focus, dass die Verdächtigen noch nicht offiziell identifiziert seien: "Der vorherrschende Eindruck bei den Einsatzkräften ist, dass sich Gruppen junger Männer mit Migrationshintergrund überproportional an den Krawallen beteiligt haben."
Ähnlich äußerten sich der konservative Innenminister des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, in der BILD-Zeitung und der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der bei dieser Gelegenheit ein Umdenken in der Einwanderungspolitik forderte.
Reem Alabali-Radovan, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, warnte vor einem "Generalverdacht gegenüber Menschen mit Einwanderungsgeschichte". Wer jetzt so reagiere, "trägt zur weiteren Stigmatisierung und Spaltung unserer Gesellschaft bei, statt die sozialen Ursachen des Problems zu bekämpfen."
Die SPD-Politikerin, die zugleich Beauftragte für Antirassismus ist, betonte: "Wir müssen die Täter anhand ihrer Taten beurteilen, nicht anhand ihrer vermuteten Herkunft, wie dies nun einige tun." Die Angriffe auf Einsatzkräfte nannte sie abscheulich. Sie müssten mit der ganzen Härte des Rechtsstaats bestraft werden.
Dieser Artikel wurde erstmals am 2.1.2023 auf Englisch publiziert und am 3.1.2023 ergänzt und adaptiert.