Der Wahltag in Köln
18. Oktober 2015Nur 100 Meter vom Tatort im Kölner Stadtteil Braunsfeld entfernt, befindet sich das nächste Wahllokal. Viele, die hier ihre Stimme zur Oberbürgermeisterwahl abgeben, gehen oft samstags auf den Wochenmarkt, auf dem am Vortag ein 44-Jähriger die Politikerin Henriette Reker mit einem Jagdmesser lebensbedrohlich verletzt hat - vermutlich aus fremdenfeindlichen Motiven.
Das Wahllokal ist im Clarenbachstift, einem Seniorenheim. Schon kurz nach 8 Uhr morgens gibt Carl-August Schreieck, Jahrgang 1922, hier seine Stimme ab. In seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg hat er viel Grausames mit ansehen müssen. Dennoch ist der heute 93-Jährige über den Angriff auf die Politikerin Henriette Reker entsetzt: "Furchtbar, unglaublich, wie so etwas passieren kann", sagt Schreieck.
Bekannt für Toleranz und "Multikulti"
Jörg Reiff ist auch ins Wahllokal gekommen. Er wohnt gegenüber des Wochenmarktes. Am Samstag, dem Tag des Attentats wurde er gegen 9 Uhr von den Polizei- und Krankenwagensirenen geweckt.
Er sei noch immer "geschockt, dass eine Politikerin auf dem friedlichen Wochenmarkt attackiert wird." Er finde es bedrohlich, dass "ein gewisser Rechtsruck" durch Köln gehe. Gerade weil die Stadt am Rhein bekannt sei für Toleranz und "Multikulti".
Wählerin Inge Mackert bekam von dem Attentat das erste Mal etwas mit, als ein Hubschrauber die niedergestochene Oberbürgermeisterkandidatin zur Notoperation ins nahe gelegene Uniklinikum geflogen hat. Doch der Vorfall habe sie nicht eingeschüchtert, beängstigt oder in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst, so Mackert. Gegen solche Anschläge sei man nicht gefeit, sagt auch Carl-August Schreieck. Die meisten hier halten den Messerstecher für einen verrückten Einzeltäter.
"Erdrutschsieg" für Reker?
Ein Wähler kommt herein und fragt: "Wie geht es Frau Reker?" Wahlhelferin Beate Tomczak-van Doorn antwortet: "Wir wissen auch nur das, was die Medien melden."
Möglicherweise, so spekulieren die sechs Wahlhelfer, säßen sie bald wieder hier, weil Henriette Reker nach ihrem Sieg feststellen würde, dass sie nach dem Anschlag den "Job" doch nicht machen wolle.
Doch zunächst einmal, ist sich Schriftführer Gunther Bär sicher, werde Henriette Reker einen "Erdrutschsieg" einfahren. Die parteilose Kandidatin, die von CDU, Grünen und FDP unterstützt wird, galt ohnehin als Favoritin im Rennen um den Chefsessel im Kölner Rathaus.
Keine Spuren mehr am Tatort
Am Tatort, wo gestern der Wochenmarkt stattfand und wo Henriette Reker mit den Bürgern ins Gespräch kommen wollte, ist kaum etwas von dem Attentat zu sehen. Die Polizeiabsperrungen wurden abgeräumt, die Blutspuren beseitigt. Nur drei Schilder erinnern noch an den Übergriff - mit der Aufschrift: "Den Mut nicht verlieren. Wählen gehen. Jetzt erst recht."
Doch viele in Köln stehen an diesem Sonntagvormittag lieber beim Bäcker Schlange als vor dem Wahllokal. Schräg gegenüber vom Tatort kaufen junge Familien und Senioren ihre Sonntagsbrötchen. Normalität in einem bürgerlichen Viertel, in dem viele Urkölner leben.
Immer noch lächelt Oberbürgermeisterkandidatin Reker von zahlreichen Wahlplakaten in Köln. Nach dem Attentat liegt sie nun auf der Intensivstation. Vor der Uniklinik stehen Polizeiautos und Fernsehübertragungswagen. "Da waren 1000 Engelchen am Werk, dass sie überlebt hat", sagt einer der Pressefotografen, die auf Neuigkeiten aus dem Krankenhaus warten.
Erleichterung beim Wahlteam
Im Wahlbüro der Kandidatin in der Kölner Altstadt haben sich Rekers Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom gestrigen Zustand der "Fassungslosigkeit" wieder erholt, so Frederik Schorn vom Wahlkampfteam. Sie seien froh, dass es Henriette Reker und den anderen vier, die bei dem Angriff ebenfalls verletzt worden sind, inzwischen besser gehe.
"Wir gehen davon aus, dass Henriette Reker die Wahl gewinnen wird", sagt Schorn. Deswegen konzentriere sich das Team jetzt darauf, wie es weitergehen wird. Dass Reker bei der Amtseinführung, die für Mittwoch geplant ist, dabei sein wird, schließt Schorn allerdings aus.