Nach der Parlamentswahl: Georgien vor Zerreißprobe
Veröffentlicht 27. Oktober 2024Zuletzt aktualisiert 27. Oktober 2024Bei der Abstimmung an diesem Sonnabend ging es nicht nur um das Parlament in Tiflis, von einer Schicksalswahl war die Rede: Bleibt Georgien bei seinem Kurs in Richtung Mitgliedschaft in der Europäischen Union oder nähert sich die Kaukasusrepublik wieder dem mächtigen Nachbarn Russland an?
Nun droht dem Land eine Zerreißprobe: Sowohl das Moskau-freundliche Regierungslager um den reichsten und mächtigsten Mann des Landes, Bidsina Iwanischwili, als auch die pro-europäische Opposition haben am Samstagabend den Sieg für sich reklamiert.
Am Sonntagvormittag erklärte die Wahlkommission die Regierungspartei zur Siegerin. Iwanischwilis nationalkonservative Partei Georgischer Traum kam nach Auszählung fast aller Wahlzettel auf 54,09 Prozent der Stimmen, während das Oppositionsbündnis aus vier EU-freundlichen Parteien auf 37,58 Prozent gekommen sei, wie Wahlleiter Giorgi Kalandarischwili in der Hauptstadt Tiflis mitteilte. Nach Auszählung der Stimmen aus 99,6 Prozent der Wahlbezirke fehlten noch einige aus dem Ausland.
Dem Ergebnis nach käme der Georgische Traum auf 91 von 150 Sitzen im Parlament und würde damit die angestrebten 113 Sitze verfehlen, mit denen die Partei ein Verbot aller wichtigen Oppositionsparteien durchsetzen wollte. Insgesamt waren rund 3,5 Millionen Georgier im In- und Ausland zur Stimmabgabe aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag nach vorläufigen Angaben aus der Nacht bei rund 59 Prozent - drei Prozentpunkte höher als noch 2020. Die Wahlen am Vortag hätten "in einer ruhigen und freien Umgebung stattgefunden", sagte Wahlleiter Kalandarischwili.
Internationale Wahlbeobachter übern Kritik
Ganz anders das Urteil internationaler Beobachter: Die georgische Parlamentswahl sei unter anderem durch "Druck" auf Wähler beeinträchtigt worden. Der Urnengang sei durch Ungleichheiten zwischen den Kandidaten, Druck und Spannungen gestört worden, urteilten die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), des Europarats, des Europaparlaments und der NATO am Sonntagnachmittag in einer gemeinsamen Erklärung. Sie brachten Bedenken zur Glaubwürdigkeit des offiziell verkündeten Ergebnisses zum Ausdruck.
Auch Außenpolitiker aus Deutschland, die zur Wahl nach Georgien gereist waren, beklagen weitreichende Verstöße: "Insbesondere auf dem Land wurden Wählerinnen und Wähler massiv unter Druck gesetzt und wir haben schwer wiegende Manipulationen gesehen", sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe dem Zweiten Deutschen Fernsehen. Diese Umstände hätten "sicherlich zu vielen Stimmen für die Regierungspartei geführt".
Der europapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Gunther Kriechbaum, sagte der Nachrichtenagentur AFP: "Der Wahlkampf war geprägt von Staatspropaganda und Fake News, in dem Oppositionsparteien so gut wie nicht vorkamen. Die im Raum stehenden massiven Wahlrechtsverstöße verurteilen wir auf Schärfste."
Als die Wahlkommission in der Nacht erste Teilergebnisse veröffentlichte und einen Sieg des Regierungslagers prognostizierte, bezeichnete die Opposition die offiziellen Teilergebnisse als "gefälscht". Der Exekutivsekretär der Regierungspartei Georgischer Traum, Mamuka Mdinaradze, sprach hingegen von einer "soliden Mehrheit" für seine Partei. Deren Gründer Iwanischwili präsentierte sich schon kurz nach Schließung der Wahllokale bei einer Feier mit seinen Anhängern und Feuerwerk in Tiflis als Sieger, ohne dass aussagekräftige Ergebnisse vorlagen.
Oppositionsbündnisse wollen um Sieg kämpfen
Die oppositionsnahe proeuropäische Staatspräsidentin Salome Surabischwili hingegen verkündete nach Veröffentlichung erster Prognosen von Wahlforschern, dass die in die EU strebenden Parteien auf 52 Prozent der Stimmen gekommen seien. Sie berief sich dabei auf Nachwahlbefragungen des US-Instituts Edison, das eine Niederlage der Regierungspartei vorhergesagt hatte.
Die prowestlichen Oppositionsbündnisse erkennen die offiziellen Ergebnisse nicht an und wollen um den Sieg kämpfen. Sie sind zwar untereinander zerstritten, haben als gemeinsamen Nenner aber das Ziel, den 68 Jahre alten Milliardär Iwanischwili loszuwerden und einen EU-freundlichen Kurs einzuschlagen.
Die Wahlleitung habe nur Iwanischwilis Befehlen gehorcht, sagte die Chefin der Partei Vereinte Nationale Bewegung von Ex-Präsident Michail Saakaschwili, Tinatin Bokutschawa. Ein Aktionsplan der Regierungsgegner werde abgestimmt.
"Die Wahlen sind der Opposition gestohlen worden. Dies ist ein verfassungsrechtlicher Staatsstreich und ein Missbrauch der Macht", sagte Nika Gwaramia von der Koalition für den Wandel. Die Wahl sei gefälscht worden nach einem komplizierten technologischen Schema. Details nannte er nicht.
In Georgien waren Hunderte Wahlbeobachter von Dutzenden verschiedenen Nichtregierungsorganisationen im Einsatz. Die vorläufigen Wahlergebnisse spiegelten nicht den Willen der Wähler wider, hieß es in einer Erklärung des proeuropäischen Bündnisses aus Nichtregierungsorganisationen, Myvote, die auch vom georgischen Ableger der bekannten Antikorruptionsorganisation Transparency International verbreitet wurde. Wahlrechtsexperten hatten schon im Vorfeld einen Missbrauch staatlicher Ressourcen durch die Regierungspartei beklagt.
Sorge vor Konflikt mit Russland - Entfremdung von EU
Bidsina Iwanischwili hatte sich im Wahlkampf als Garant für Frieden positioniert und eine Verschwörungstheorie über eine mysteriöse "globale Kriegspartei" verbreitet, die westliche Institutionen kontrolliere und Georgien in den russischen Krieg gegen die Ukraine hineinziehen wolle. Es gelte zu verhindern, dass das Land in einen direkten Konflikt mit Russland gedrängt werde. Oppositionskandidaten wirft er vor, eine Revolution und Chaos anzetteln zu wollen. Der Georgische Traum strebt die absolute Mehrheit im Parlament an, um die pro-westliche Opposition per Verfassung verbieten zu können.
Bereits jetzt hat die Regierung eine Entfremdung mit der Europäischen Union erreicht. Vergangenen Juni trat das Gesetz gegen angebliche ausländische Einflussnahme in Kraft. Von der Opposition und westlichen Regierungen wird es als Mittel zur schärferen Kontrolle der Zivilgesellschaft und unvereinbar mit Grundrechten kritisiert. Die Europäische Union legte den Beitrittsprozess auf Eis. Erst vergangenen Dezember hatte Georgien den Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Anfang des Monats sorgte ein weiteres Gesetz für Spannungen, das die Rechte der LGBTQ-Minderheit einschränkt.
Kritiker vermuten Russland hinter dem Kurs der Regierung in Tiflis. Die Regierung in Moskau hat eine Einflussnahme in Georgien abgestritten.
AR/ack (dpa, afp, rtr)
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