Brüssel erwartet keine deutsche Kehrtwende
25. September 2017Bei den europäischen Gipfeltreffen in den nächsten Monaten wird es vom deutschen Stuhl her wohl keine klare Ansagen, sondern nur abwartende Antworten geben. Zwar sitzt die geschäftsführende konservative Kanzlerin Angela Merkel in Brüssel mit am Tisch, aber sie muss zuhause eine noch nie dagewesene Koalition mit Liberalen und Grünen formen. Erst wenn die steht, wird auch der europapolitische Kurs klar sein. Der Chef der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, geht davon aus, dass sich der Kurs Deutschlands nicht ändern wird. "Weil Deutschland ein Stabilitätsanker in der EU war, ist und auch bleiben muss und unter Frau Merkel bleiben wird, kommt es jetzt darauf an, so schnell wie möglich eine stabile Regierung auf die Beine zu kriegen. Ob auf zwei Beine oder drei Beine, das hängt von den Gesprächen in den nächsten Tagen ab." Jean-Claude Juncker, ein Parteifreund Angela Merkels, erwartet keinen radikalen Wandel in Berlin, aber im Detail könnte es haken.
"Der Weg ist lang"
Die FDP ist für einen strikten Sparkurs in der Eurozone und für eine strengere Flüchtlingspolitik. Die Grünen dagegen können sich weitreichende Reformen in der Eurozone vorstellen und stellen vor allem in der Klimapolitik wesentlich schärfere Forderungen als die bisherige Bundesregierung. Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold meint, der Weg nach Jamaika, einer schwarz-gelb-grünen Koalition, sei noch weit. "Grünes Regieren erfordert deutlich mehr als Klimaschutz. Auch bei sozialer Ungleichheit, Europa, Handelspolitik und Flüchtlingen müsste ein Koalitionsvertrag eine klar erkennbare grüne Handschrift tragen. Wie das mit der CSU, FDP und CDU gehen soll, ist mir bisher schleierhaft."
Der belgische Außenminister Didier Reynders erwartet keinen dramatischen Kurswechsel. Er hofft, "dass es nach den Wahlen in Deutschland jetzt mit Schwung weitergeht in Europa. Es kommt jetzt darauf an, dass Frankreich, Deutschland, die Niederlande und andere bei praktischen Reformen der Eurozone, aber auch bei Migration, Verteidigung und Sicherheit vorankommen", sagte Reynders am Rande einer Ratstagung in Brüssel. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will am Dienstag in einer Grundsatzrede den Umbau der Eurozone zu einer wirklichen Währungs- und Haftungsgemeinschaft mit eigenem Budget und Finanzminister vorschlagen. Er gratulierte der Bundeskanzlerin telefonisch zum Wahlsieg und schrieb auf Twitter: "Wir werden unsere unentbehrliche Zusammenarbeit für Europa und unsere Länder mit Entschiedenheit fortsetzen."
Zuspruch von ganz rechts
Aus Ungarn meldete sich der nationalkonservative Premier Viktor Orban per Facebook. Orban, der die europäische Flüchtlingspolitik ablehnt, schrieb ganz knapp auf Deutsch: "Budapest gratuliert!" Angeblich fassen seine Anhänger das als Unterstützung für die rechtspopulistische AfD auf, die drittstärkste Kraft im Bundestag wurde und Orbans Fidesz-Partei nahesteht. Die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin war für den konservativen Außenminister Österreichs, Sebastian Kurz, die Achillesferse Angela Merkels. Er sei nicht überrascht über das Wahlergebnis, teilte der ÖVP-Vorsitzende Kurz mit. Die Flüchtlingskrise sei von den Parteien in Europa nicht richtig ernstgenommen worden. Sebastian Kurz will das Gegenteil tun. Er will Mitte Oktober die Parlamentswahlen in Österreich gewinnen und eventuell eine Koalition mit der rechtspopulistischen FPÖ eingehen.
Die FPÖ wiederum gratulierte den rechtspopulistischen Schwestern und Brüdern von der AfD. "Die Umverteilung des hart erarbeiteten Steuergeldes an irgendwelche Pleitestaaten und auch der unfassbare Migrantenstrom nach Europa im Jahr 2015” zeigten, dass sich die Europäer nach einer Änderung der bisherigen Politik sehnten, sagte FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Bundeskanzlerin Merkel, so der FPÖ-Funktionär, habe durch ihre Flüchtlingspolitik "großen Schaden" angerichtet. Inzwischen ist die Kanzlerin genau wie ihre große Koalition allerdings auf einen Abschottungskurs umgeschwenkt. Das Ziel der EU ist es nach vielen Beschlüssen der Innenminister, die Einreise von Flüchtlingen und Migranten über Land- und Seegrenzen in Griechenland und Italien vollständig zu stoppen.
"Den Rechten nicht nach dem Munde reden"
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist "besorgt" über den Einzug der Rechtspopulisten ins deutsche Parlament. Die Politik in Europa werde das aber nicht verändern, meinte Juncker auch mit Blick auf die zahlreichen anderen rechtspopulistischen Bewegungen in Österreich, den Niederlanden, Frankreich, Finnland, Schweden, Polen oder Ungarn. "Wer jetzt denkt, in Europa, besonders in Deutschland, sei jetzt der Moment gekommen, genau das zu sagen, was die extreme Rechte sagt, der irrt sich fundamental und bringt Europa in große Gefahr", sagte Juncker der DW.
Für den französischen Sozialisten Pierre Moscovici, der in der EU-Kommission für den Euro zuständig ist, ist das gute Abschneiden der rechtsradikalen AfD ein "Schock". Der liberale Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, der für die FDP in den Bundestag wechseln wird, sieht das etwas gelassener. Als Vizepräsident des Europaparlaments habe er auch Sitzungen geleitet, in denen es Zwischenrufe von ganz Rechtsaußen gab. "Man kann hysterisch darauf reagieren, man kann ihnen dadurch noch mehr Aufmerksamkeit verschaffen, als sie ohnehin schon haben. Oder man macht einfach klar, dass bestimmte Werte sich auch in der Geschäftsordnung wiederfinden. Das heißt, diskriminierende, rassistische, volksverhetzende Äußerungen werden entsprechend sanktioniert." Das müsse geschäftsmäßig geschehen und nicht mit aufgeblasenen Backen und viel Krach, sagte Graf Lambsdorff dem Deutschlandfunk.
"Deutsche Staatsräson bleibt"
Unterm Strich setzt Europa weiter auf Merkel, wie EU-Kommissionschef Juncker in Brüssel am Tag nach der Wahl klarmachte. Immerhin habe sie nach zwölf Jahren im Amt ihre Wiederwahl geschafft. Das könne kein anderer EU-Staats- und Regierungschefs im Moment vorweisen. Deshalb sei sie auch nicht geschwächt, obwohl sie Stimmen verloren habe, meinte Juncker. "Der Einfluss Deutschlands in der Welt hat sehr viel mit der Rolle, die Deutschland in der Europäischen Union spielt, zu tun. Ich glaube nicht, dass diejenigen, die auf das Regierungsschiff in bewegten Weltmeeren setzen, Abstriche machen an der Staatsräson Deutschlands. Die war immer proeuropäisch."