Jesidinnen kämpfen um ihre Kinder
5. Mai 2019Mit seiner Entscheidung, alle Überlebenden der Verbrechen des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) wieder in die Gemeinde aufzunehmen, hat der Hohe Jesidische Geistliche Rat vergangene Woche eine Debatte ausgelöst.
Sie drehte sich um die Frage, wie die Kinder der durch IS-Kämpfer vergewaltigten Frauen in die jesidische Gemeinschaft integriert werden könnten. Jesiden sind eine religiöse Minderheit, die im Norden des Iraks lebt. Im Jahr 2014 mussten sie eine beispiellosen brutalen Genozids durch den "Islamischen Staat" erdulden.
Doch die religiösen jesidischen Führer betonten nun, dass sie bei "allen Überlebenden der Verbrechen" nicht die Kinder meinten, die aus Vergewaltigungen entstanden sind, sondern nur jene, deren Eltern Jesiden sind, die sich in IS-Gefangenschaft befunden hatten.
Die religiösen Führer reagierten damit auf Kritik innerhalb der jesidischen Gemeinschaft, die immer noch mit dem Trauma des Genozids ringt. Die Jesiden fragen sich, welche Auswirkungen dieser auf ihre Identität und dem Stigma hat, das viele beschämte Überlebende von sexuellen Übergriffen verstummen ließ.
Die Gemeinschaft akzeptiert aus Gründen der Tradition ausschließlich Ehen und Zeugungen entweder zwischen zwei Jesiden oder, wenn es eine genehmigte Konvertierung gab. Dadurch könne die kleine religiöse Gruppe ihre Identität erhalten und angesichts eines Genozids überleben.
Die jesidische Überlebende und Nobelpreisträgerin Nadia Murad äußerte sich in einer Videobotschaft am Sonntag zu der Entscheidung der religiösen Führer: "Die erste und die letzte Entscheidung liegt bei den Überlebenden und deren Familien. Niemand hat das Recht, Entscheidungen über sie zu treffen. Wenn sie entscheiden, gemeinsam mit ihren Kindern in den Irak zurückzukehren, müssen wir das als Gemeinschaft akzeptieren, sie willkommen heißen und ihnen jede erdenkliche Hilfe anbieten."
Zeynep Kaya vom "London School of Economics Middle East Centre" schätzt, dass bis zu 200 der 3.500 heimgekehrten Frauen mit ihrem Kind aus der IS-Gefangenschaft fliehen konnten.
Doppelt bestraft
Die jesidische Aktivistin und ehemalige irakische Parlamentsabgeordnete Amina Said ist ebenfalls der Meinung, dass die Familien selbst über das Schicksal ihrer Kinder entscheiden sollten. "Als Mutter kann ich die Gefühle der Frauen nachempfinden", sagt sie im Gespräch mit der DW. "Ich verstehe auch die Reaktionen der jesidischen Gemeinschaft, da ich selbst Teil dieser Gemeinschaft bin. Aber diese Menschen sind Opfer. Wenn wir die Türen für sie zumachen, werden sie doppelt bestraft sein."
Der Hohe Geistliche Rat habe 2015 positive Schritte nach vorn gemacht, als sie Frauen, die zum Islam konvertieren musste, die Rückkehr und die erneute Taufe erlaubte. Aber diesmal habe sie falsch gehandelt, weil sie die Gemeinschaft nicht befragt habe. "Wenn sie sich die Zeit genommen hätten, mit Familien, den Frauen und einigen Nichtregierungsorganisationen zu sprechen, hätten sie einen Weg für die Frauen gefunden", sagt Said.
Stigma, Genozid und das Gesetz
Einige Jesiden haben argumentiert, dass die Umsiedlung der betroffenen Kinder und Frauen der einzige Weg sei, Stigmatisierung zu vermeiden. Der Schutz der ohnehin schon fragilen Gemeinschaft habe höhere Priorität, als die Interessen einzelner Kinder und ihrer Mütter.
Einer der schmerzhaftesten Prozesse der Jesiden sei die Akzeptanz der Kinder, deren Väter einen Völkermord an der einst 500.000 Menschen großen Gemeinschaft verübt hätten, meint Ahmed Burjus, Direktor der Hilfsorganisation "Yazda". Ein Mann habe ihm einmal gesagt, dass er hoffe seine Frau würde heimkehren, aber "ohne den Sohn eines Mannes aus Tschetschenien, der Türkei oder Saudi-Arabien. Du weißt, dass dieser Mensch verantwortlich ist für den Genozid, für die Plünderung deines Besitzes, für die Zerstörung deines Hauses und den Mord an deiner Familie. Und jetzt bist du gezwungen dessen Sohn oder Tochter in dein Haus zu lassen."
Manche Mitglieder der jesidischen Gemeinschaft würden auch, so Burjus, befürchten, dass die Kinder Opfer von Vergeltungstaten jener werden, die unter dem "IS" gelitten haben oder ihr Leben lang ein Stigma mit sich herum tragen.
Ein weiteres Problem könnte auch ein umstrittenes irakisches Gesetz werden. Das besagt, dass sich ein Kind als Muslim registrieren lassen muss, falls einer der Eltern Muslim ist. Das könnte auf die jesidischen Kinder zutreffen, da ihre Väter zwar nicht bekannt sind, es aber angenommen wird, dass sie als IS-Kämpfer Muslime sind.
Zwar liegt dem irakischen Parlament derzeit ein Gesetzentwurf vor, darauf abzielt, einige Leiden der Jesiden, einschließlich der Rechte von Überlebenden zu verbessern. Er enthält aber keine Ausnahmen für Kinder, die aus Vergewaltigung geboren wurden. "Wir glauben, dass diese Frauen und Kinder Respekt verdienen", sagt Burjus der DW. "Und der beste Weg, diesen zu erzielen, ist sie außerhalb des Iraks anzusiedeln und ihnen ein Leben in Würde zu ermöglichen."
Schwangerschaft versteckt oder Kinder abgegeben
Einige der Frauen, die überlebt haben, sind bereits nach Deutschland, in andere Teile Europas oder nach Australien ausgewandert, wodurch die jesidische Identität weiter zersplittert. Andere Mütter, die vom "IS" gefangen genommen worden waren, haben einen Weg gefunden, sich unbemerkt wieder in ihre ehemalige Gemeinschaft einzufinden.
Manche haben ihre Schwangerschaft versteckt und die Kinder an Familienmitglieder gegeben. Andere behaupten, dass sie jesidische Ehemänner in Gefangenschaft gefunden hätten, sagt Zeynep Kaya.
"Die meisten Frauen aber werden wohl ihre Kinder abgeben und in ihre Gemeinschaft zurückkehren oder einfach das Land verlassen. Es ist sehr hart für diese Frauen, da sie konstant in der Schwebe gehalten werden", meint Kaya. "Sie wollen in ihre Gemeinschaft zurückkehren, aber dann müssten sie ihre Kinder aufgeben. Es ist eine weitere Form der Zurückweisung und Ausgrenzung, zusätzlich zu dem, was sie bereits erlitten haben."