Nationalismus verdrängt Vernunft
3. April 2006Es gibt keinen Grund, der neuen Gewaltwelle durch militante Kurden in der Türkei Sympathien entgegenzubringen. Wer Brandbomben gegen Busse schleudert, kaltblütig den Tod von unschuldigen Menschen einkalkuliert und Touristenzentren bedroht, verdient weder Unterstützung noch Billigung. Was die so genannten "Freiheitsfalken Kurdistans" als zu allem entschlossene Vollstreckertruppe der auch in Deutschland sowie vielen europäischen Ländern verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) veranstaltet, ist Terrorismus pur.
Innerhalb einer Woche sind zwölf Menschen getötet worden. Drei Busfahrgäste starben am Sonntagabend (2.4.2006) in Istanbul, nachdem randalierende Demonstranten einen Brandsatz auf das Fahrzeug geschleudert hatten. Im Südosten des Landes wurde bei weiteren Ausschreitungen in der Stadt Kiziltepe ein Mann erschossen.
Die Türkei hat nichts dazugelernt
Dass der türkische Staat alle zur Verteidigung seiner Bürger zur Verfügung stehenden Mittel aufbietet, klingt in diesem Zusammenhang zunächst einmal selbstverständlich. Doch müssen diese Mittel im Einklang mit rechtsstaatlichen Prinzipien stehen. Gefragt sind Besonnenheit, Rücksicht auf Unbeteiligte und die Verhältnismäßigkeit der Mittel bei militärischen oder polizeilichen Maßnahmen. Und hier muss sich die türkische Regierung kritische Fragen gefallen lassen.
Die neue Gewaltwelle zeigt: Der Staat hat aus dem 15-jährigen Kampf gegen die PKK von 1984 bis zur Festnahme von PKK-Führer Abdullah Öcalan im Jahr 1999 nichts dazugelernt. Vielmehr wiederholt der Staat immer noch dieselben alten Fehler, die dem Land bereits vor Jahren wirtschaftliche Verluste in Höhe von mehreren Milliarden Dollar sowie eine schwere Schädigung des Images im Ausland - besonders in Europa - eingebrockt hatten. Zudem treibt die äußerst willkürlich erscheinende Gegengewalt gegen den kurdischen Aufruhr zahlreiche um ihre Hoffnungen und Zukunftschancen beraubten jungen Kurden in die Arme militanter kurdischer Untergrundorganisationen.
Erdogan gefährdet Anschluss an EU
Was der in Europa so beliebte türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sich derzeit leistet, ist ein Skandal. Wenn Erdogan erklärt, die staatlichen Sicherheitskräfte dürften auch gegen Frauen und Kinder vorgehen, wenn diese zu "Werkzeugen des Terrors" würden, dann widerspricht dies allen europäischen und internationalen Werten und Normen. Die Türkei als ein Land, das in die EU strebt, kann sich solche Sprüche und ein solches Vorgehen schon gar nicht leisten.
Die neue landesweite Gewaltwelle erstickt zunächst auch die Hoffnungen auf eine Wende in der Kurdenfrage. Zu befürchten ist, dass bereits wie vor mehr als zwei Jahrzehnten ein rücksichtslos agierender Staatsapparat das Problem verschärfen wird. Hinzu kommt, dass die Türkei in den vergangenen Jahren relativer Ruhe in den entlegenen und wirtschaftlich rückständigen Kurdengebieten alle Chancen auf einen Kurswechsel vertan hat. Weder wurden die feudalen Strukturen in Ost- und Südostanatolien durchbrochen, noch wurden die rund zehntausend einst vom Staat zur Loyalität verpflichteten und von diesem bewaffneten und bezahlten kurdischen "Dorfwächter" entmachtet. Pläne wie Unterstützungsprogramme für neue Existenzgründungen, für Entwicklungsschübe und für neue Arbeitsplätze als Ersatz für den Wegfall der "Kriegsindustrie" verstauben bis heute in den Amtsstuben Ankaraner Ministerien.
Angst vor neuer Terrorismuswelle
Die jüngsten Entwicklungen und Reaktionen aus Ankara lassen befürchten, dass viele Kurden sich erneut vor die Wahl gestellt fühlen, für oder gegen den türkischen Staat zu sein. Wenn dieser Staat aber mit Emotionen und nationalistischen Parolen statt mit Vernunft und Rechtsstaatlichkeit reagiert, dann darf er sich nicht wundern, wenn aus Protesten kleine Untergrundzellen und aus diesen Zellen wiederum eine Wiederkehr des Terrorismus im Lande entstehen.