NATO: "Nicht völlig lahm"
5. November 2015Ein paar US-Soldaten stehen am Schluss beim Appell und natürlich auch die deutschen und albanischen Soldaten, die offiziell an der Übung teilgenommen haben. Aber de facto schmeißen die Italiener auf eigenem Gelände in Sardinien den Laden. Die angestrebte Multinationalität, ein Begriff, der an diesem Tag sehr häufig fällt, ist bei diesem Teil des Großmanövers "Trident Juncture" nicht sehr ausgeprägt.
Hans-Lothar Domröse, Deutschlands oberster NATO-General und gleichzeitig Kommandant von "Trident Juncture", ist seit Anfang Oktober ununterbrochen auf Achse. Er pendelt mit Helikopter und Militärflugzeug zwischen den Übungsplätzen in Spanien, Portugal und Italien hin und her, inspiziert amphibische Übungen unter kanadischer Führung und die Luftbetankung von Düsenjägern, geleitet von der deutschen Bundeswehr. Trotz des Sammelsuriums von 30 beteiligten Nationen (inklusive Partnerländer wie der Schweiz) sagt er offen: "Bei der Multinationalität können wir noch besser werden."
Militärischer Nachteil
Ein erfahrener NATO-Diplomat, der lieber anonym bleiben möchte, formuliert es deutlicher. Die Tatsache, dass sich 28 Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Prioritäten und Fähigkeiten ständig koordinieren müssten, sei "ein riesiger militärischer Nachteil". Vor allem gegenüber Russland.
"Trident Juncture" ist laut NATO das größte Manöver der Allianz seit 13 Jahren. 36.000 Soldaten nehmen daran teil, ein großer Bereich des westlichen Mittelmeerraums steht für die Übung zur Verfügung. Was sich erst mal groß anhört, verblasst allerdings angesichts der russischen Kapazitäten.
Mehr als ein Dutzend Manöver mit bis zu 80.000 Teilnehmern hat Russland in den vergangenen zwei Jahren veranstaltet. Die meisten davon waren offenbar Überraschungsübungen und hatten keinen Zwei-Jahres-Vorlauf, wie die NATO bei "Trident Juncture". "Von den Zahlen her ist die Übung nicht wirklich beeindruckend", meint deshalb auch Paul Ivan vom European Policy Centre in Brüssel. Gleichzeitig müsse die NATO vorsichtig sein, keine Aufrüstungsspirale in Gang zu setzen.
Schwere Waffen nutzen
Die aktuelle Dynamik gleicht allerdings - zumindest noch - keiner Spirale wie im Kalten Krieg, als sich zwei in ihrer Zerstörungskraft ebenbürtige Gegner immer wieder gegenseitig überboten. Zur Zeit ist es eher so: Russland legt vor, die NATO versucht zu reagieren. "Die Russen sind entschlossener, flexibler und einiger", meint der NATO-Diplomat, "daran müssen wir definitiv arbeiten." Die Geschlossenheit verwundert niemanden, denn komplizierte Abstimmungsverfahren oder Legitimationsprozesse gibt es nicht im Militär Putins.
General Domröse versucht so üben zu lassen, dass die verschiedenen Teile der NATO-Mitglieder am Schluss ein schlagkräftiges Ganzes ergeben. "Es ist ja nicht so, dass wir völlig lahm sind", betont er. Er gibt aber auch zu, dass die kürzlich demonstrierte Fähigkeit der Russen, Raketen vom Kaspischen Meer abzuschießen und damit Ziele im über 1000 Kilometer entfernten Syrien zu treffen, die NATO beunruhigt.
Zumindest legt das den Unterschied zwischen der Allianz und Russland schonungslos offen. "Die Russen haben in den vergangenen zehn Jahre erheblich aufgerüstet. Wir sind aus dem Afghanistan-Einsatz und dem Kosovo-Einsatz mehr auf 'Greet and Meet the People' eingestellt." Will heißen: Interkulturelle Kompetenz ist schön und gut, aber die NATO müsse wieder lernen mit "schweren Waffen und Flugzeugen mit modernem Überwachungsgerät" umzugehen.
Abschreckung contra Cyber-Krieg
Es geht um die langfristige Strategie der NATO. Auf dem Gipfel in Wales 2014 gab es das Signal zum Aufbruch und hastige Reaktionen auf die russische Annexion der Krim. Beispiel: die so genannte "Speerspitze", die innerhalb weniger Wochen überall im NATO-Gebiet eingreifen können soll.
Aber noch ist nicht klar, wohin die Reise genau geht. "Wir haben noch einen ziemlich langen Weg vor uns, was unsere zukünftige Strategie und auch unsere zukünftigen Übungen angeht", sagt der NATO-Diplomat. Ein Wort, das in diesen Überlegungen immer wieder auftaucht, ist Abschreckung. "Wir müssen uns genau überlegen, wie wir in diesen Zeiten überhaupt noch abschrecken können."
"Diese Zeiten", das bedeutet, hybride Kriegsführung und Cyber-Krieg, das Internet lahmlegen, Konflikte am Köcheln halten, ohne Beteiligung zuzugeben, mit sogenannten Internet-Trollen die öffentliche Meinung beeinflussen und schnell und flexibel sein. Das alles macht Russland und noch mehr.
Aber nicht alles ist schlecht an "Trident Juncture", urteilt Experte Paul Ivan. Obwohl das Manöver deutlich vor den Konflikten in der Ostukraine beschlossen und konzipiert wurde, habe die NATO viele Elemente integrieren können, die sich mit moderner Kriegsführung auseinandersetzen. "Es ist wichtig, Russland die Grenzen aufzuzeigen, und dazu gehören auch Übungen wie 'Trident Juncture'."
Multinationale Einsätze
Der NATO-Diplomat sieht das ähnlich. Das Timing der Übung sei gut, wenn auch nur zufällig, und einige Elemente des Manövers seien "ziemlich relevant": komplexe Abläufe einzustudieren zum Beispiel, und multinationale Einsätze zu üben. Vor allem letzteres ist allen Beteiligten extrem wichtig, gerade den US-Amerikanern.
Zwar können die Russen dem NATO-Mitglied USA nach wie vor militärisch nicht das Wasser reichen. Wenn es also wirklich darauf ankommt, könnten sich die Amerikaner, wie schon früher, für die Zusammenarbeit mit der NATO bedanken und dann die Situation im Alleingang regeln. Das ist allerdings auch nicht im Interesse der USA, denn die Multinationalität sei auch ein "riesiger politischer Vorteil", so der anonyme Diplomat: "Die NATO wird immer aus demokratischen Ländern bestehen. Das gibt unserem Handeln Rechtmäßigkeit." Zumindest da hat die Allianz einen klaren Vorteil gegenüber Russland, am Rest arbeitet sie noch.