Vom Flüchtling zum WM-Starter
24. September 2019Nazir Jaser seufzt. "Eigentlich ist das kein fairer Wettbewerb. Ich bin hier, glaube ich, der einzige Amateur, der Vollzeit arbeiten geht und nebenbei Rad fährt." Kurz vor seinem Wettkampf des Jahres beschleicht ihn so etwas wie Zweifel. Kann er als Auszubildender und Amateurfahrer gegen die versammelte Profielite bestehen? Natürlich wird er es nicht können, das weiß er nur zu gut. Im Einzelzeitfahren der Weltmeisterschaft im britischen Harrogate steht er großen Namen des Radsports wie Vuelta-Sieger Primoz Roglic, Titelverteidiger Rohan Dennis, Ex-Toursieger Geraint Thomas oder dem vierfachen Weltmeister Tony Martin gegenüber.
54 Kilometer auf einem welligen Terrain mit 648 Höhenmetern von Northallerton nach Harrogate erwarten die WM-Starter im Kampf gegen die Uhr. Ein anspruchsvoller Parcours durch Yorkshire, der erwartbar zu größeren Zeitabständen führen wird. Nazir Jaser versucht sich nicht einschüchtern zu lassen von der namhaften Konkurrenz. Er ist bereits vergangene Woche angereist und bereitet sich akribisch vor. Die Strecke hat er sich schon mehrfach angeschaut, mit dem Rad sowie mit dem Auto, Streckenkenntnis ist entscheidend beim Zeitfahren.
Nur nicht wieder Letzter werden
Es ist bereits seine dritte Weltmeisterschaft nach 2013 und 2017. Bei der ersten WM wurde er noch Letzter, auch, weil er nur mit einem normalen Rennrad an den Start gehen durfte. Sein Zeitfahrrad entsprach nicht den Regeln des Radsport-Weltverbandes UCI. "Bei der WM in Norwegen 2017 habe ich dann schon zehn Fahrer hinter mir gelassen. Hier in England will ich mich noch etwas weiter nach vorne arbeiten", sagt er im Gespräch mit der DW. Dass er überhaupt hier starten kann im Trikot der syrischen Nationalmannschaft, ist so etwas wie das Happy End eines Dramas.
Nazir Jaser wuchs in Aleppo auf, als er zehn Jahre alt war, starb sein Vater. Schon mit zwölf Jahren verließ er die Schule, machte eine Ausbildung als Schneider, um Geld zu verdienen - bis der Krieg seine Heimatstadt erreichte. Jaser floh nach Damaskus, doch auch dort wollte und konnte er nicht lange bleiben. Sein Freund und Teamkollege Omar Hasanin wurde 2014 verhaftet, angeblich wegen Handels auf dem Schwarzmarkt. Im Gefängnis habe man Hasanin - immerhin 2012 Teil der Olympiamannschaft Syriens - so stark geschlagen und misshandelt, dass dieser nicht mehr gehen, geschweige denn Radfahren kann, berichten seine Teamkollegen. Nahezu alle Fahrer des syrischen Nationalteams beschlossen daraufhin zu fliehen.
"Wir sind mit dem Auto gefahren, waren auf Schiffen und Booten unterwegs, sind gelaufen", erzählt Jaser von der Flucht. Seine Heimat verließ er als amtierender Landesmeister. "Wir haben unsere Fahrräder verkauft, um uns die Reise leisten zu können. Die Flucht war teuer und es ging nicht immer alles offiziell zu. Man brauchte Geld. Alleine das Schlauchboot von der Türkei zur nächsten griechischen Insel hat 1500 US-Dollar gekostet. Mein Rad zurückzulassen, hat weh getan. Aber es gab keine Alternative." Nach einer langen Reise über das Mittelmeer und durch mehrere europäische Länder erreichte er Ende 2015 seinen Zielort Berlin. Dort hat sich der inzwischen 30-Jährige ein neues Leben aufgebaut.
Nur ein Rucksack blieb ihm von seinem alten Leben
Er fand eine Wohnung, begann eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann und hofft nun auf eine Anstellung beim Landessportbund Berlin. Sportlich nahm sich die NRVg. Luisenstadt, ein Berliner Radsportverein, seiner an, gemeinsam mit anderen syrischen Flüchtlingen kann er hier auf der Bahn und der Straße trainieren. Jaser versucht, nach vorne zu schauen, sich auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren. Doch immer wieder geht sein Blick auch zurück auf das, was er zurückließ: Freunde, Heimat, die kleinen Dinge. Er kam nur mit einem Rucksack nach Deutschland, den Rest seines Lebens musste er hinter sich lassen. "Zeugnisse, Medaillen, Pokale. Alles was ich durch den Radsport gewonnen habe, musste ich zurück lassen. Der Krieg hat mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt." Hoffnungen, sein Hab und Gut irgendwann einmal wieder zu finden, hat er nicht. "Unsere Wohnung steht nicht mehr, alles ist weg."
Er fing bei Null an in Deutschland, betont Jaser, der sich hier eine Zukunft aufbauen will, mit einem Job und vielleicht auch, indem er einmal seine Familie nachholen kann, wenn das möglich ist. Sein Deutsch ist erstaunlich gut, er drückt sich gewählt aus und hat klare Vorstellungen davon, wie sein Leben weitergehen soll. Nazir Jaser ist angekommen in Deutschland.
Das kann auch der Sportliche Leiter seiner Mannschaft bestätigen. Christoph Reckers hat Jaser 2018 kennengelernt, als der gemeinsam mit einigen Landsleuten zum Jedermannteam Paintrain stieß. Auf Anhieb habe sich der Syrer in die Mannschaft integriert und trug dank starker Leistungen prompt das Gelbe Trikot des Führenden in der Rennserie German Cycling Cup. "Er ist ein ruhiger Typ, kein Lautsprecher", sagt Reckers über seinen Fahrer. "Er hat sehr viel Erfahrung im Radsport und weiß, was er will, aber die Ansagen im Rennen überlässt er anderen." Insgesamt fünf syrische Flüchtlinge fahren inzwischen für Reckers Mannschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, durch Sport zusammenzuführen. "Wir lernen enorm viel voneinander, auch kulturell. Unser Team ist bunter geworden." Das heißt dann zum Beispiel auch, dass das Team vor dem Rennen dort essen geht, wo auch Speisen halal serviert werden.
Alle syrischen WM-Starter flohen vor dem Krieg
Wie Jaser flohen viele syrische Sportler vor dem Krieg, leben nun im Exil. Denn in der Heimat seien die Bedingungen für Leistungssport noch immer schlecht, sagt Jaser. Er selbst konnte meist nur auf einer Straße trainieren, hin und zurück. Und daran habe sich wenig geändert. "Die Radsportler in Syrien trainieren auch hart, können aber an keinen Wettkämpfen teilnehmen. So haben sie natürlich auch nicht die Leistung, die man braucht, um hier halbwegs mitfahren zu können." Außerdem gebe es für Sportler in Syrien bei der Ausreise immer Probleme mit dem Visum. Bei der WM sind drei Syrer am Start, zwei bei der Elite, einer bei der U23. Keiner von ihnen lebt in Syrien, alle sind geflohen und lernen sich zum Teil erst hier bei der WM kennen.
Auf das Straßenrennen am Sonntag verzichtet Nazir Jaser - aus Respekt vor der Strecke. "Das WM Rennen ist 284 Kilometer lang. Ich arbeite achteinhalb Stunden am Tag, da reicht die Freizeit nicht aus, um ausreichend zu trainieren. Ich bin dieses Jahr nur ein Rennen über 150 Kilometer gefahren. Für mehr müsste ich meine Leistung noch steigern und das braucht natürlich Zeit." Zuschauen will er dennoch, die Atmosphäre und die Radsportbegeisterung auf der Insel genießen - und vorher natürlich im Einzelzeitfahren mit einer starken Leistung ein Zeichen setzen. Für Syrien, seine Landsleute und für sich.