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Der Maschinenmensch

Michael Hartlep14. August 2013

Cyborgs sind Mischwesen aus Mensch und Maschine. Die DW hat einen von ihnen an der Mauer in Berlin getroffen: Neil Harbisson. Er wollte seine Farbenblindheit nicht hinnehmen - und verpasste sich ein Upgrade.

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Der Cyborg Neil Harbisson. (Copyright: Wilton/Red Bulletin)
Der Cyborg Neil HarbissonBild: Dan Wilton/Red Bulletin

Deutsche Welle: Wie sieht die Welt hier um die Berliner Mauer aus - durch die Augen eines Cyborgs?

Neil Harbisson: Ich sehe hier nur verschiedene Grautöne. Aber durch das elektronische Auge höre ich Musik, wenn ich zum Beispiel an der Mauer entlang gehe. Viele verschiedene Töne, weil die Mauer sehr bunt ist. Es ist ein richtiges Musikstück: diddeldiddeldie dieddelda… Sie klingt sehr interessant!

Sie sind ständig von Tönen umgeben. Geht das nicht irgendwann auf die Schaltkreise?

Vor zehn Jahren wäre ich hier durchgedreht. Aber inzwischen schockt mich das nicht mehr. Mein Gehirn hat sich daran gewöhnt, Farben zu hören. Aber normalerweise sind es auch nicht so viele Töne wie hier.

Berliner Mauer an der Eastside Gallery mit Graffiti verziert. (Copyright: ullstein bild - Imagebroker.net)
Ein Stück der Mauer in Berlin wird für Harbisson zum MusikstückBild: ullstein bild - Imagebroker.net

Was ist Ihre Lieblingsfarbe?

Meine Lieblingsfarbe ist Infrarot, denn das ist der tiefste Ton, den ich wahrnehmen kann. Das ist das Aufregende am elektronischen Auge: Ich kann sogar mehr Farben wahrnehmen als normale Menschen.

Wie wurden Sie eigentlich zum Cyborg?

Das war während meines Musik-Studiums, als ich einen Vortrag über Kybernetik, also Steuerungstechnik, besuchte. Es ging um die Frage, wie wir mit Technologie unsere Sinne erweitern können. Und da kam mir eine Idee: Könnte man nicht mit Technik meine Sinne erweitern, damit ich Farben wahrnehmen kann? Also bauten wir ein elektronisches Auge, das Farben in Töne umwandelt. Stück für Stück wurde es ein Teil von meinem Organismus. Irgendwann fühlte ich eine starke Verbindung zwischen der Technik und meinem Körper.

Viele Menschen mit einer Behinderung gewöhnen sich irgendwann daran. Sie nicht. Warum?

Ich wollte immer Farben wahrnehmen können. Sie sind sehr wichtig für das soziale Miteinander. Man fühlt sich ein bisschen ausgeschlossen, wenn man als einziger etwas nicht wahrnehmen kann, was alle anderen sehen. Ich wollte aber nicht auf das schwarz-weiß-Sehen verzichten. Insofern ist elektronische Auge ideal, weil ich damit Farben hören kann. Ich fühle mich jetzt ebenbürtig: Ich kann keine Farben sehen und andere Menschen können keine Farben hören.

Wann dachten Sie zum ersten Mal: "Ich bin ein Cyborg"?

Das kam Stück für Stück. Eines Nachts fing ich an, in Farben zu träumen. Die elektronischen Töne kamen aber nicht von der Software, sondern von meinem Gehirn! Die Grenze zwischen der Technik und meinem Körper hatte sich aufgelöst. Das war der Moment wo ich dachte: Das Wort "Cyborg" beschreibt eigentlich am besten, was ich gerade fühle.

Was genau ist eigentlich ein Cyborg?

Ein Cyborg ist jemand, der ein steuerndes, technisches Gerät als Teil seines Körpers empfindet. Auf dieses Gefühl kommt es an. Es kann entweder ein Organismus mit technischen Teilen sein oder aber eine Technik mit organischen Anteilen. Manche Leute sagen, dass man schon mit einer Brille oder einem Herzschrittmacher ein Cyborg ist. Ich sehe das anders. Eine Brille und ein Herzschrittmacher sind nichts Steuerungstechnisches.

Gibt es Dinge, die Sie mit dem elektronischen Auge nicht tun können?

Das elektronische Auge ist Teil meines Körpers. Ich trage es Tag und Nacht, beim Duschen und beim Schlafen. Nur Tauchen kann ich damit nicht, weil es nicht wasserdicht ist. Aber daran arbeite ich…

Wie reagieren die Leute auf Sie?

Menschen mit Antennen stoßen in unserer Gesellschaft noch immer auf Vorbehalte. Manche Leute zeigen mit dem Finger auf mich oder lachen. Was mich wirklich wundert ist, dass sich das in den letzten neun Jahren, die ich das elektronische Auge jetzt trage, überhaupt nicht geändert hat. Die Reaktion ist noch immer noch genau gleich.

Können Sie so eine Situation beschreiben?

In Kinos denken sie zum Beispiel oft, dass ich den Film mit einer Kamera aufnehme. In Casinos bin ich unerwünscht, weil es den anderen Gästen unangenehm sein könnte. Auch an Flughäfen gibt es immer Probleme. Aber inzwischen habe ich einen neuen Pass, der mich mit dem elektronischen Auge zeigt. Damit werde ich zumindest nicht mehr gezwungen es abzulegen oder auszusteigen.

Wie erklären Sie sich diese ablehnenden Reaktionen?

Im 20. Jahrhundert gab es viele Filme und Comics, die Cyborgs als eine gefährliche Mischung aus Mensch und Maschine zeigten. Das wirkt bis heute nach. Noch immer sehen viele Menschen Technik als etwas Unmenschliches, was nicht zu uns gehört, als etwas Schlechtes oder potentiell Schädliches. Aber wir haben die Technik geschaffen! Sie gehört zu uns und wir können damit tolle Dinge tun.

Neil Harbisson: "Ich bin ein Cyborg!"

Sie haben eine Cyborg-Stiftung gegründet. Was ist das Ziel?

Die Cyborg-Stiftung hat drei Ziele: Wir wollen anderen Menschen helfen, zum Cyborg zu werden. Technik ist heute ein sehr wichtiger Teil des Lebens. Überall Smartphones, Tablets und Computer. Sie zum Teil des Körpers zu machen ist der nächste Schritt. Und wir treten für mehr Cyborg-Rechte ein. Bislang werden Menschen, die ihre Wahrnehmung mit Technik erweitern, diskriminiert.

Außerdem wollen wir Cyborgismus als Kunstrichtung fördern. Denn durch neue Sinne entstehen auch ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten für Künstler. Ich wünsche mir, dass es in 50 Jahren ganz normal ist, Technik im Körper zu haben. Es wäre schön, wenn es dann Menschen mit Antennen gibt, die damit ganz andere Dinge wahrnehmen können.

Viele Menschen wollen eher unabhängiger werden von Technik.

Das finde ich gut! Ich bekomme sehr viele Briefe von Kindern, die auch Cyborgs werden möchten. Sie sehen, wie ihre Eltern die ganze Zeit ihren Smartphones und Laptops herumtippen und völlig von der Realität abgekoppelt sind. Das wollen diese Kinder nicht mehr. Das gute am Cyborg sein ist, dass man diese ganze externe Technik nicht mehr braucht. Denn wir werden selbst zur Technik. Man könnte weiter seine Umgebung wahrnehmen und müsste nicht ständig mit den Fingern auf irgendetwas herumtippen und wischen.

Wären wir dann überhaupt noch menschlich?

Die Technik macht uns nicht unmenschlicher, sondern menschlicher! Denn dadurch rücken wir näher an die Natur heran. Tiere haben eine viel feinere Wahrnehmung als Menschen. Diese Sinne könnten wir auch haben - durch Technik. Bei mir wird der Schall zum Beispiel in den Schädelknochen übertragen - genau wie bei Delfinen. Viele Vögel und Insekten sehen ultraviolett. Auch Antennen sind in der Tierwelt völlig normal. Insofern fühle ich mich eher bei den Tieren als bei Maschinen.

Viele Menschen haben Angst, dass die Maschinen irgendwann die Menschheit beherrschen könnten.

Das ist Science Fiction. Wir bestimmen doch selbst, was wir in unseren Körper integrieren.

Und Ihre Zukunft? Haben sie ein weiteres "Upgrade" geplant?

Ich möchte unabhängig von Batterien werden. Bislang muss ich sie alle fünf Tage wechseln. In Zukunft will ich Energie aus meinem eigenen Blutkreislauf gewinnen und den Chip damit aufladen. Das ist das tolle, wenn man ein Cyborg ist: Die Entwicklung ist nie abgeschlossen. Normalerweise werden die Sinne schlechter, wenn man älter wird. Beim Cyborg ist es anders herum: Je älter ich werde, desto besser werden meine Sinne, weil sich die Technik weiter entwickelt.

Neil Harbisson (30) ist der erste Mensch, der von einer Regierung als Cyborg anerkannt wurde. Der irisch-katalanische Künstler und Musiker ist seit seiner Geburt farbenblind und sieht die Welt in schwarz-weiß. Seit neun Jahren trägt er ein elektronisches Auge, das Farben in Töne umwandelt und auf den Schädelknochen überträgt. Harbisson hat eine Stiftung in Barcelona gegründet, die Menschen unterstützt, ebenfalls zum Cyborg zu werden.

Das Interview führte Michael Hartlep.