Neonazi-Mordserie: Mehr Fragen als Antworten
6. November 2012Am 4. November 2011 wird in Eisenach eine Bank überfallen. Die beiden Täter erbeuten 70.000 Euro und flüchten auf Fahrrädern. Aufmerksame Zeugen geben der Polizei wertvolle Hinweise. Schon zwei Stunden nach der Tat nähern sich Beamte einem verdächtigen Wohnmobil, das kurz danach in Flammen aufgeht. In dem Fahrzeugwrack werden die Leichen von zwei Männern entdeckt, die sich selbst erschossen hatten. Bei den Toten handelt es sich um die Ende der 1990er Jahre untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.
In diesem Moment ahnt noch niemand die Tragweite dieses rätselhaften Kriminalfalls. Bei der Spurensicherung fallen der Polizei mehrere Waffen in die Hände. Darunter befindet sich die Pistole, mit der im April 2007 in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen wurde. Das Ganze wird immer rätselhafter, als am Nachmittag desselben Tages in Zwickau nach einer Explosion ein Haus ausbrennt, in dem die rechtsextremistischen Bankräuber zusammen mit einer Frau namens Beate Zschäpe gewohnt haben.
Makaberes Bekennervideo
In den Trümmern entdecken Fahnder ein makaberes Video, in denen sich die Autoren ihrer seit September 2000 begangenen Morde rühmen. Bei den Opfern handelt es sich neben der Polizistin um neun Männer mit Migrationshintergrund. Das menschenverachtende Bekennervideo ist der Schlüssel zur Aufklärung einer Mordserie, an der die Polizei schon lange verzweifelte. Denn plötzlich stellt sich heraus, dass die Ermordung von acht Kleinunternehmern mit türkischen Wurzeln und einem Griechen mutmaßlich auf das Konto des Terror-Trios geht, das sich selbst "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) nennt.
Das Tatmotiv ist also Fremdenhass, ist verbrecherischer Rassismus. Die Strafverfolger indes waren sich ziemlich sicher, dass es sich bei der unheimlichen Mordserie um Racheakte im türkisch dominierten Mafia-Milieu handeln müsste. Eine Vermutung, die sich auch in der Medienberichterstattung widerspiegelte. Von "Döner-Morden" war all die Jahre bedenken- und geschmacklos die Rede. In welcher Richtung hauptsächlich ermittelt wurde, belegt auch der Name einer Ermittlungsgruppe, die Sonderkommission "Bosporus" hieß.
Präsident des Verfassungsschutzes tritt zurück
Elf Jahre nach dem ersten NSU-Mord erfährt die entsetzte Öffentlichkeit, dass ein Neonazi-Trio durchs Land reiste, zahlreiche Banken überfiel und mindestens zehn Menschen hinrichtete. Der Schock ist umso größer, weil die Taten womöglich hätten verhindert werden können. Denn der Verfassungsschutz kannte die mutmaßlichen Täter seit den 1990er Jahren und verlor trotz intensiver Beobachtung irgendwann ihre Spur. Mit dem Versagen der Sicherheitsdienste befassen sich seit vielen Monaten mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse des Bundes und der Länder. Der langjährige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Heinz Fromm, legte sein Amt nieder. Auslöser war die angeblich ohne sein Wissen erfolgte Vernichtung wichtiger Akten in seiner Behörde.
Die Bundeskanzlerin verspricht den Hinterbliebenen der Opfer schonungslose Aufklärung. Sie empfinde Scham und Trauer, sagt Angela Merkel unter dem Eindruck der unfassbaren Mordserie. Auf der zentralen Gedenkfeier am 23. Februar in Berlin nennt sie es "beklemmend", dass die Täter jahrelang auch und vor allem im Umfeld der Opfer-Familien gesucht wurden. "Dafür bitte ich Sie um Verzeihung", sagt Merkel zu den Angehörigen. Im Auftrag der Bundesregierung kümmert sich inzwischen die frühere Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John um die Angehörigen. Neben seelischem Beistand geht es auch um materielle Ansprüche, beispielsweise Opferrenten.
Türkische Gemeinde sieht zunehmenden Rassismus
Dieser Tage beklagt Barbara John gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, zunehmenden Rassismus in Deutschland. Beide bezweifeln, dass aus dem Bekanntwerden des NSU-Terrors die richtigen Konsequenzen gezogen werden. John kritisiert das "Eigenleben" der Behörden – nötig sei vor allem ein Mentalitätswandel. Kolat verlangt die Auflösung des Verfassungsschutzes in seiner bestehenden Form. "Er gefährdet den demokratischen Rechtsstaat", meint der Gemeinde-Funktionär.
Strafrechtlich steht die Aufarbeitung der Mordserie noch am Anfang. Die einzige noch lebende Hauptverdächtige, Beate Zschäpe, sitzt seit knapp einem Jahr in Haft. Sie stellte sich vier Tage nach dem Auffliegen des von ihr mitbegründeten "Nationalsozialistischen Untergrunds" der Polizei, verweigert aber die Aussage. Die Anklageerhebung der Bundesanwaltschaft wird in Kürze erwartet.
Diskussion über NPD-Verbot dauert an
Im Zuge der Ermittlungen ist auch die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) wieder verstärkt ins Blickfeld geraten. Die offen rechtsextreme Partei gilt vielen Kennern der Szene als eine Art politischer Arm des gewaltbereiten rechtsextremistischen Milieus. Personelle Verbindungen zum NSU gibt es. Ob sie ausreichen, um der NPD eine "aggressiv-kämpferische" Haltung gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat nachweisen zu können, ist unter Experten umstritten. Noch in diesem Jahr wollen die Innenminister von Bund und Ländern entscheiden, ob beim Bundesverfassungsgericht ein zweiter NPD-Verbotsantrag gestellt werden soll. Seit Monaten sammeln die Behörden belastendes Material. Ein erster Versuch, die 1964 gegründete Partei zu verbieten, scheiterte 2003 wegen der vielen Spitzel (V-Leute) des Verfassungsschutzes in der NPD-Führungsebene.
Die Auf- und Verarbeitung des NSU-Terrors wird das Land noch lange beschäftigen. Die Angehörigen der Opfer erwarten vor allem einen baldigen Beginn des Prozesses gegen Beate Zschäpe und andere Verdächtige. "Unser tiefer Wunsch nach vollständiger Aufklärung wird erst durch einen Richterspruch Geltung erlangen", sagte Kerim Simsek dem "Tagesspiegel". Sein Vater Enver war am 9. September 2000 das erste NSU-Opfer. Der Blumenhändler wurde in Nürnberg erschossen.