Kritik am Krisenmanagement
6. Mai 2015"Die Regierung hat zu spät reagiert. Die Bevölkerung wird immer wütender, seit sie weiß, dass einige Dörfer tagelang keinerlei staatliche Hilfe bekommen haben", beschreibt die in Kathmandu lebende Journalistin Shiwani Neupane die Situation in Nepal gegenüber der DW. Dort mischt sich in die Verzweiflung immer mehr Wut über das Krisenmanagement der Regierung, knapp zwei Wochen nachdem ein Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richterskala das Land erschütterte.
Mit offiziell mehr als 7.500 Toten und über 14.000 Verletzten war das Beben vom 25. April die schlimmste Naturkatastrophe in Nepal seit über 80 Jahren. Die Zahl der Todesopfer könnte noch steigen, wenn die Rettungskräfte die entlegenen Bergdörfer nahe des Epizentrums erreichen. Nach Schätzungen der UN sind rund acht Millionen Menschen vom Erdbeben betroffen, mindestens zwei Millionen von ihnen benötigen dringend Zelte, Wasser, Nahrungsmittel und Medikamente. "Wir haben noch immer Probleme, Hilfsgüter in die entlegensten Gebiete zu schaffen", sagt Orla Fagan, Sprecherin des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), gegenüber der DW. "Diese Gebiete sind von der Außenwelt abgeschnitten, deshalb suchen wir nach alternativen Möglichkeiten, die Hilfe auch dort zu den Menschen zu bringen."
Viele Bergstraßen sind durch Erdrutsche zerstört, deshalb werden Flugzeuge und Hubschrauber benötigt. Die US-Luftwaffe unterstützt die Hilfsbemühungen durch eine Transportmaschine und vier Osprey-Helikopter. "Damit haben wir die Möglichkeit, Hilfsgüter an vorher festgelegten Punkten abzuwerfen. Im Moment sind immer noch 14 Bezirke so gut wie unzugänglich", so Fagan, die allerdings hofft, auch diese Regionen bis spätestens Ende der Woche versorgen zu können.
Wachsender Frust
Währenddessen geben die Nepalesen vor allem der Regierung die Schuld daran, dass die internationalen Hilfsgüter nicht schnell genug verteilt würden und werfen ihr vor, die Menschen in den entlegenen Regionen im Stich zu lassen. "Die Wut und der Frust richten sich jetzt gegen die nepalesische Regierung, weil viele Nepalesen glauben, dass Korruption bei der Verteilung der Hilfsgüter eine große Rolle spielt", sagt die Journalistin Neupane.
Seit dem Erdbeben ist es vereinzelt zu gewalttätigen Protesten vor Regierungsgebäuden gekommen. Mit Stöcken und Steinen bewaffnete Demonstranten blockierten Straßen und beschädigten Fahrzeuge. "Bislang wurden dabei nur Straßen blockiert und Hilfsgüter gestohlen", so Alison Evans, Asien-Expertin beim globalen Think Tank IHS gegenüber der DW. "Doch das Ausmaß der Gewalt könnte schnell zunehmen, wenn die Hilfe nicht schnell überall und gerecht verteilt wird." George Varughese, Nepal-Experte der "Asia Foundation", kann den Unmut zu einem gewissen Grad sogar verstehen: "Viele haben Verwandte oder Freunde, die erst nach dem Beben gestorben sind, weil die Hilfe zu spät oder gar nicht ankam. Wieder andere leiden an Hunger oder könnten an Seuchen erkranken. Und es gibt kaum Informationen aus den am schlimmsten betroffenen Gebieten". Varughese zufolge wird die Regierung vor allem deshalb so kritisch gesehen, weil sie dazu tendiere, im Namen von Koordination und Transparenz zu bürokratisch vorzugehen. "Nepals Regierung hat bei der Verteilung der Hilfsgüter mit einigen Engpässen zu kämpfen", so Varughese. "Es gibt weder ein sinnvolles Managementsystem für die Einfuhr noch genügend Möglichkeiten zur Lagerung und Weiterverteilung von Hilfsgütern. Deshalb stapeln sich diese auf Transitflughäfen oder an Grenzübergängen."
Probleme mit der Verteilung
Tatsächlich wurde Nepal dafür kritisiert, ausländische Hilfsgüter nicht zügig durch den Zoll zu lassen. Es gibt sogar Berichte darüber, dass LKWs mit Hilfslieferungen an der Grenze zu Indien abgewiesen wurden, weil sie keine gültigen Papiere besaßen. Und die Güter, die es doch über die Grenze schaffen, werden nicht schnell genug verteilt. Für die besonders entlegenen Gebiete benötigt das Land Hubschrauber, doch in Nepal gibt es kaum welche.
Überhaupt ist Nepal mit einem Bruttoinlandsprodukt von gerade einmal 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr wirtschaftlich viel zu schwach, um die Katastrophenhilfe oder einen langfristigen Wiederaufbau finanziell alleine zu schultern. Hinzu kommt eine langjährige politische Krise, die das Land seit dem Sturz der Monarchie 2008 lähmt. Die wichtigsten politischen Parteien konnten sich bislang nicht auf eine Verfassung einigen. "2008 verabschiedete das Land eine Nationale Strategie zum Katastrophenmanagement", erklärt Alison Evans. "Aber die politische Situation verhinderte deren Umsetzung."
"Einfach nur beschämend"
Aus der wachsenden Unzufriedenheit versuchen verschiedene politische Oppoistionsparteien Kapital zu schlagen, indem sie die Regierung von Premierminister Sushil Koirala scharf attackieren. Vergangene Woche giftete Dinanath Sharma, ein Sprecher der nepalesischen Maoisten, Koirala verschleppe alle Hilfsbemühungen und lege "in dieser Zeit eines großen nationalen Verlustes eine völlig unsensible Haltung an den Tag". Dass Nepal völlig abhängig sei von Hilfen aus Indien, China und dem übrigen Ausland, anstatt sich selbst helfen zu können, sei "einfach nur beschämend".
Siegfried Wolf, Forschungsdirektor am South Asia Democratic Forum (SADF) in Brüssel, glaubt, dass die Schwere der Katastrophe und die Überforderung der Regierung eine große Chance für die Maoisten birgt, politisch wiederzuerstarken: "Das Epizentrum des Erdbebens lag im Nordwesten Nepals – in einer Gegend, die in den letzten zwei Jahrzehnten als Hochburg der Maoisten galt", so Wolf gegenüber der DW. "Vor diesem Hintergrund macht es durchaus Sorgen, dass dieser Teil des Landes sich von der Zentralregierung bis heutevernachlässigt fühlt."
Politische Folgen nicht abzuschätzen
Demgegenüber gibt George Varughese zu bedenken, dass die Oppositionsparteien sich im Krisenmanagement nicht viel besser angestellt hätten. Acht volle Tage hätten sie gebraucht, bis sie Geldgeber und internationale Organisationen um Hilfe gebeten hätten, um eigene Aktionen zu starten.
Seiner Meinung nach sind die politischen Folgen der Naturkatastrophe noch nicht abzuschätzen. Denn keine der Oppositionsparteien habe bislang glaubhaft machen können, dass sie das Land besser führen könne als die aktuelle Regierung. "Statt eines Sturzes der jetzigen Koalition wäre auch eine Regierung der nationalen Einheit denkbar, die gemeinsam versucht, die Katastrophe zu managen", so Varughese. Daran mag Journalistin Neupane zumindest in den kommenden Monaten nicht glauben. Dafür sei das öffentliche Misstrauen allen Parteien gegenüber zu groß. "Aber wenn den Parteien wirklich an der Gefühlslage des nepalesischen Volkes gelegen ist, dann sollten sie versuchen, ihren geschädigten Ruf wiederherzustellen. Gerade jetzt wäre dazu eine gute Zeit." Trotzdem könnte sich die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zunächst einmal weiter in die Länge ziehen.