Neue GroKo? Was in der EU auf dem Spiel steht
2. März 2018Am Sonntag werden wichtige Weichen neu gestellt in Europa: Italien erhält ein neues Parlament, und Deutschland weiß endlich, ob es weiter von einer sogenannten "großen Koalition" (GroKo) zwischen Konservativen und Sozialdemokraten regiert wird. Die Europäische Kommission bereite sich auf das Worst-case-Szenario vor, hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vergangene Woche in einer Diskussionsveranstaltung gesagt. Seine Sorge gilt vor allem dem Ausgang der italienischen Parlamentswahl: Unklare Mehrheitsverhältnisse in Italien könnten für das Land vielleicht "keine handlungsfähige Regierung" bedeuten.
Er nannte aber auch den SPD-Mitgliederentscheid als Grund für seine Unruhe: Ohne Zustimmung der SPD-Mitglieder gibt es keine große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD und damit zunächst keine Regierung der führenden Macht in Europa.
Kanzlerin Angela Merkel ist sich dessen sehr bewusst. In ihrer jüngsten Regierungserklärung zur Europapolitik sagte sie: "Wir brauchen einen neuen Aufbruch für Europa." So steht es sogar im Koalitionsvertrag zwischen ihren Konservativen und der SPD, der Anfang Februar veröffentlicht worden war. 2018 sei das Jahr, in dem die Weichen für die Zukunft gestellt werden müssten. Doch noch spricht sie als nur geschäftsführende Kanzlerin.
Bricht also in Brüssel Panik aus, wenn in Berlin keine große Koalition zustande kommt? Nein, meint Janis Emmanouilidis von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre. Es gäbe dann aber "eine gewisse Unsicherheit, denn einer der stärksten Akteure hätte keine Regierung, die in der Lage ist, schwerwiegende Entscheidungen mitzutragen". Deswegen hoffe man in Brüssel sehr auf die große Koalition.
Merkel ist nicht mehr "Frau Europa"
Doch auch wenn die Koalition zustande kommt, träte Merkel nicht mehr als die unangefochtene Führungsfigur in Brüssel auf, die sie noch vor der Bundestagswahl (September 2017) war. Das amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" hatte sie vor wenigen Jahren (auf deutsch) "Frau Europa" genannt. Als Trump US-Präsident wurde, stilisierten sie manche englischsprachige Medien sogar zur Anführerin der gesamten westlichen Welt hoch. Das ist vorbei.
Ende vergangenen Jahres bezeichnete "Time" Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron als den "nächsten Anführer Europas". Während Merkels Partei bei der Bundestagswahl an Unterstützung stark eingebüßt hat (mehr als sieben Prozentpunkte), ging Macron als strahlender Sieger aus der französischen Präsidentschaftswahl 2017 hervor. Während er in Paris souverän Empfänge für die schwierigen Präsidenten Trump, Putin und Erdogan meisterte, versucht Merkel seit Monaten mit verschiedenen Parteien, eine Regierung zu bilden.
Macron habe zwar Merkel nicht den Rang abgelaufen, meint Stefan Seidendorf, stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, aber "er nutzt die Machtinstrumente der V. Republik sehr stark aus", die Diplomatie etwa oder das Militär, um Frankreichs Einfluss in Europa und weltweit zur Geltung zu bringen. Auf europäischer Bühne preschte er mit Reformvorschlägen vor und fordert etwa einen Finanzminister und ein Budget für die Eurozone, was in Deutschland vor allem die Unionsparteien CDU/CSU skeptisch sehen. Einmal mehr sieht sich Berlin in der Defensive. FDP-Fraktionschef Christian Lindner bemängelt bereits, Frankreich sei inzwischen "zum Taktgeber avanciert".
Führung nur zusammen mit Frankreich
Janis Emmanouilidis meint dennoch, dass Merkel im Falle einer erneuten Kanzlerschaft in einer großen Koalition "auch künftig eine starke Führungsrolle wahrnehmen wird". Die Bedeutung Deutschlands sei geblieben. "Gleichzeitig gibt es eine stärkere Balance zwischen den Mitgliedsstaaten", vor allem zwischen Deutschland und Frankreich. Berlin habe heute "nicht die gleiche Stärke wie zuvor", meint der Politologe. Auch dadurch, dass sich die Eurokrise abgeschwächt habe und es nun andere Herausforderungen gebe, sei das Gewicht Deutschlands heute "nicht mehr das gleiche wie bisher". Aus europäischer Perspektive sei das aber "eine gute Nachricht", weil sich gemeinsame Reformen so leichter umsetzen ließen.
Das Zeitfenster ist klein
Eine schlechte Nachricht ist dagegen die Spaltung der EU, sie ist heute tiefer denn je. Die Visegrád-Staaten in Ostmitteleuropa (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) sind vor allem in der Flüchtlingspolitik zu keinerlei Zugeständnissen bereit, wie sie vor allem Merkel immer wieder gefordert hat. Und der nächste große Streit könnte sich um das EU-Budget drehen. Schon jetzt hat Merkel angeboten, für einen Teil der demnächst ausfallenden britischen EU-Zahlungen aufzukommen, wenn Großbritannien die EU verlässt. In Deutschland warf man ihr bereits Ausverkauf vor. FDP-Chef Lindner sagte: "Damit schwächen Sie die deutsche Verhandlungsposition." Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel meinte, für die Kanzlerin bedeute "mehr Verantwortung für Europa", mehr Geld auszugeben und auf Souveränität zu verzichten.
Apropos AfD: Schon jetzt sind im Europaparlament in Straßburg und Brüssel etwa 20 Prozent Rechtspopulisten aus allen Ländern vertreten. Die gemäßigten Parteien befürchten, dass es bei der nächsten Europawahl im Mai 2019 noch mehr werden. Bis dahin wollen die EU-Kommission und die Regierungen den Bürgern konkrete Lösungen ihrer Probleme bieten, damit die Bürger keinen Grund haben, rechts zu wählen. Das Zeitfenster dafür ist ohnehin klein. Sagen die SPD-Mitglieder Nein zur großen Koalition und gibt es in Deutschland Neuwahlen, verginge wohl ein weiteres halbes Jahr, in dem das wichtigste Land Europas als Gestalter ausfiele. Denn alle Parteien wären mit Wahlkampf beschäftigt. Eine starke Volksparteien-Regierung in Deutschland wäre daher ein wichtiges Signal gegen den beunruhigenden Trend.