Neue Polizeigewalt vor "Zaman"-Gebäude
5. März 2016Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen rund 500 Menschen ein, die sich aus Solidarität mit der regierungskritischen Zeitung "Zaman" vor deren Redaktionsgebäude versammelt hatten. Das Blatt war am Freitag unter Zwangsverwaltung gestellt worden.
"Die freie Presse kann nicht zum Schweigen gebracht werden", riefen die Demonstranten. Viele hielten die Samstagsausgabe des Blattes mit der Titelzeile "Die Verfassung ist ausgesetzt" hoch. "Die türkische Presse hat einen der schwärzesten Tage ihrer Geschichte erlebt", heißt es in der "Zaman"-Nummer, die am Vorabend noch gedruckt werden konnte, ehe die Polizei kurz vor Mitternacht die Redaktion stürmte. Schon hierbei trieb sie mit Wasserwerfen und Tränengas die Teilnehmer einer Kundgebung auseinander.
"Wir werden klare Worte finden"
Das Vorgehen gegen "Zaman" stößt international auf scharfe Kritik. "Die Türkei ist dabei, eine historische Chance der Annäherung an die Europäische Union zu verspielen", sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz dem "Tagesspiegel am Sonntag". Angesichts der "erneuten Angriffe auf die Medienfreiheit" werde man auf dem Flüchtlingsgipfel der Europäischen Union am Montag "klare Worte" finden, kündigte er an. Die Türkei sei für die EU ein wichtiger strategischer Partner. Es könne für sie allerdings "keinen Rabatt" geben, so Schulz.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, es sei "kein Zufall, dass dieser staatliche Angriff auf die Pressefreiheit zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem die EU mit der Türkei eine Vereinbarung über die Rücknahme von Flüchtlingen trifft". Ebenfalls in einem Funke-Interview erklärte Grünen-Chef Cem Özdemir, Bundeskanzlerin Angela Merkel müsse "endlich klare Worte der Kritik finden und aufhören, absichtlich jede menschenrechtliche Sauerei in der Türkei zu übersehen".
"Dröhnendes Schweigen"
Die Regierung in Berlin erklärte, sie äußere sich zu innenpolitischen Vorgängen in der Türkei grundsätzlich nicht öffentlich. Reporter ohne Grenzen protestierte hiergegen. Das "dröhnende Schweigen" der Bundesregierung sei "unerträglich", so die Journalistenorganisation. Von dem EU-Türkei-Gipfel am Montag dürfe "nicht das verheerende Signal ausgehen, dass die EU über jede Menschenrechtsverletzung hinwegsieht, wenn es um Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik geht".
Davutoglu: Die Türkei ist ein Rechtsstaat
Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu verteidigte das Vorgehen gegen die Zeitung als unabhängige Entscheidung der Justiz. Die gegen "Zaman" ergriffenen Maßnahmen seien "sicher keine politischen, sondern rechtliche Vorgänge", sagte Davutoglu während eines Staatsbesuchs im Iran in einer vom türkischen Fernsehen ausgestrahlten Reaktion. Die Türkei sei ein Rechtsstaat, es komme daher "nicht in Frage für mich oder irgendeinen meiner Kollegen, sich in diesen Prozess einzumischen".
Zugleich warnte der Regierungschef indirekt vor einer Unterwanderung der Türkei etwa durch die Hikmet-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der "Zaman" nahesteht. "Wir sollten nicht unsere Augen verschließen (...) vor einer parallelen Struktur innerhalb des Staates, die die Presse und andere Werkzeuge benutzt", um ihre Ziele durchzusetzen, sagte Davutoglu.
Erdogan und Gülen: Von Freunden zu Feinden
Gülen lebt seit 1999 im Exil in den USA. Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstellt seinem einstigen Verbündeten, er beabsichtige, die Regierung zu stürzen. Die Hikmet-Bewegung wurde zu einer "terroristischen Vereinigung" erklärt. Außer "Zaman", die auflagenstärkste Zeitung der Türkei, wollen die türkischen Behörden auch die englische Ausgabe "Today's Zaman" und die Nachrichtenagentur Cihan unter ihre Kontrolle stellen.
jj/cw/rb (dpa, afp, rtr)