"Neue Quelle der Hoffnung"
5. Januar 2004Mehr als zwei Jahre nach der Vertreibung des Taliban-Regimes haben sich die gesellschaftlichen Gruppen Afghanistans auf eine demokratische Verfassung geeinigt. "Wir sind sehr glücklich, dass alle Mitglieder der Loya Dschirga eine sehr erfolgreiche Einigung erzielt haben", sagte der Leiter der Großen Ratsversammlung, Sibghatullah Mudschaddedi. Die Verfassung besteht aus 160 Artikeln in zwölf Kapiteln. Der UN-Sondergesandte Lakhdar Brahimi sagte, die Afghanen könnten die neue Verfassung "als eine neue Quelle der Hoffnung" betrachten.
Streit um Landessprachen
Der Streit zwischen diesen Gruppen um die Landessprache führte die Versammlung an den Rand des Scheiterns. Bis zuletzt hatten die Delegierten darüber gestritten, ob das von einer ethnischen Minderheit in Nordafghanistan gesprochene Usbekisch neben Paschtu und Dari den Status einer dritten Amtssprache erhalten soll. Mehrfach hatten Delegierte die Befürchtung geäußert, die Forderung der Usbeken könne den Grundstein für einen föderalistischen Staat legen und Afghanistan spalten.
Im Vielvölkerstaat Afghanistan zählen mehr als 50 Prozent der 25 Millionen Einwohner zum Staatsvolk der Paschtunen, die das Land traditionell beherrschten. Die Tadschiken machen etwa ein Viertel aus, Usbeken und Hasara je ein Zehntel. Jetzt hat sich die verfassungsgebende Versammlung darauf verständigt, in denjenigen Regionen die Sprachen von Minderheiten als amtlich zu erklären, in denen diese in der Bevölkerung besonders stark vertreten sind. "Wir sind froh und stolz, weil unsere Sprache nun einen verfassungsrechtlichen Status erhält", sagte der usbekische Delegierte Hedajatullah Hedajat.
Mehr Macht für Karsai
Die Beratungen der Loya Dschirga sind ein zentraler Teil des Demokratisierungsprozesses in Afghanistan. Die neue Verfassung gibt dem Präsidenten die von ihm gewünschte starke Stellung. Bisher ist Karsais Macht auf den Großraum der Hauptstadt Kabul beschränkt, während die Entscheidungsgewalt in den Provinzen bei den Führern ethnischer Gruppen liegt. Ursprünglich war die Abstimmung über den Verfassungsentwurf bereits für Neujahr geplant gewesen. Der Termin war jedoch vor allem am Widerstand von Mudschahedin sowie von Vertretern ethnischer Minderheiten wie den Usbeken und Tadschiken gescheitert. Sie befürchteten, dass die im Verfassungentwurf vorgesehene starke Stellung des Präsidenten ihren Einfluss schmälert.
Einen Ministerpräsidenten wird es nicht geben. Im Streit um die Zahl der Vizepräsidenten konnten sich die Kritiker von Staatschef Hamid Karsai durchsetzen. Der Kompromiss sieht zwei Stellvertreter vor, einen mehr als im ursprünglichen Entwurf vorgesehen. Die Kritiker hatten argumentiert, mehrere Vizepräsidenten könnten die Einflussmöglichkeiten des Präsidenten besser kontrollieren. Regierungskritische Delegierte konnten sich nicht mit ihrer Forderung durchsetzen, Afghanen mit doppelter Staatsangehörigkeit von der Regierung auszuschließen. Der Kompromiss sieht vor, dass die Ernennung von Ministern mit einem zweiten Pass durch den Präsidenten vom Parlament gebilligt werden muss.
Mehr islamisches Recht
Der Islam wird Staatsreligion der "Islamischen Republik Afghanistan". Während der Verhandlungen wurden mehrere Bestimmungen des vorgelegten Entwurfs in Richtung einer islamischen Gesellschaftsordnung geändert - so wird vermutlich ein Alkoholverbot in der Verfassung verankert. Gleichzeitig wird Anhängern anderer Religionen aber das Recht auf Ausübung ihres Glaubens zugestanden. Das Wort Scharia, die islamische Rechtsprechung, findet sich nicht in der neuen Verfassung. Jede Form der Diskriminierung ist verboten. Auch die Forderung von Menschenrechtsgruppen nach einer Anerkennung der gleichen Rechte von Mann und Frau wurde mit in den Verfassungstext aufgenommen.
Die Verfassung ist Voraussetzung für die in diesem Jahr geplante Parlamentswahl und die anschließende Bildung einer dauerhaften Regierung. Das Zwei-Kammer-Parlament besteht aus dem Unterhaus, dem "Haus des Volkes" (Wolesi Dschirga), und dem Oberhaus, dem "Haus der Ältesten" (Meschrano Dschirga). Der Präsident ist einer der beiden Kammern des Parlaments verantwortlich. Das Unterhaus soll von der Bevölkerung gewählt werden und hat das Recht, Minister-Ernennungen des Präsidenten abzusegnen und Amtsenthebungsverfahren gegen sie einzuleiten. Dem früheren König Mohammed Sahir Schah wird auf Lebenszeit der Titel "Vater der Nation" zuerkannt. (arn)