Neue Tiefpunkte im Brexit-Drama
7. September 2019Die britische Arbeitsministerin Amber Rudd hat ihr Amt niedergelegt. Das teilte Rudd per Twitter mit. Auch aus der konservativen Fraktion tritt sie aus. Der Rücktritt der als gemäßigt geltenden konservativen Politikerin ist ein schwerer Schlag für Premierminister Boris Johnson. Als Grund nannte Rudd unter anderem den Rauswurf von Abgeordnetenkollegen durch Johnson aus der Tory-Fraktion am Dienstag. "Ich kann nicht zusehen, wie gute, loyale, moderate Konservative ausgeschlossen werden", schrieb Rudd. Ihr Amt übernimmt jetzt Umweltstaatssekretärin Therese Coffey, wie eine Regierungssprecherin bestätigte.
Johnson hatte am Dienstag 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen, die im Streit um den Brexit-Kurs des Premiers gegen die eigene Regierung gestimmt hatten. Darunter sind so prominente Mitglieder wie der Alterspräsident und ehemalige Schatzkanzler Ken Clarke und der Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.
Der Premier steht wegen seines harschen Vorgehens zunehmend in der Kritik. Am Donnerstag legte bereits sein Bruder, Jo Johnson, aus Protest sein Amt als Staatssekretär und auch sein Abgeordnetenmandat für die Tories nieder. "Ich war in den vergangenen Wochen zerrissen zwischen Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse - es ist eine unauflösbare Spannung", begründete Jo Johnson seine Entscheidung. Trotz aller Widrigkeiten wagt Boris Johnson am Montag einen neuen Anlauf, um eine Neuwahl durchzusetzen.
Die von Johnson geschassten Abgeordneten bleiben ein Problem für den Premier: Zusammen mit Oppositionsvertretern bereiten einige von ihnen juristische Schritte gegen Johnson vor, sollte er das Gesetz zur Bexit-Verschiebung umschiffen wollen. "Sich irgendeinem bestimmten Gesetz zu widersetzen stellt einen sehr gefährlichen Präzedenzfall dar", sagte der frühere stellvertretende Ministerpräsident David Lidington der BBC.
"Tot im Graben"
Das gegen den massiven Widerstand von Johnson verabschiedete Gesetz verpflichtet diesen, bei der EU-Kommission im Brüssel eine Verschiebung des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union bis zum 31. Januar 2020 zu beantragen, sollte er es nicht schaffen, bis zum 19. Oktober ein Austrittsabkommen mit der EU zu vereinbaren.
Doch der britische Premierminister Boris Johnson hatte es mehrfach ausgeschlossen, bei der EU eine erneute Verschiebung des Brexit-Datums zu beantragen. Lieber wolle er "tot im Graben liegen", sagte er. Hellhörig wurden Johnsons Gegner, als er am Freitag Reportern sagte, das Gesetz sehe nur "theoretisch" eine Brexit-Verschiebung vor.
Johnson hat versprochen, sein Land am 31. Oktober aus der EU zu führen, "komme, was wolle". Er will am Montag im Unterhaus über eine Neuwahl am 15. Oktober abstimmen lassen, um das Gesetz mit einer Parlamentsmehrheit rechtzeitig noch einmal zu ändern. Doch die Opposition hat bereits klar gemacht, dass sie das nicht zulassen wird. Für eine vorgezogene Wahl ist die Zustimmung von zwei Dritteln aller Abgeordneten notwendig.
Spekuliert wird nun, die Regierung könne mangels Alternativen versuchen, das Gesetz einfach zu ignorieren oder ein Schlupfloch zu finden, um es zu umgehen. Doch Experten warnten, Johnson könnte im Extremfall im Gefängnis landen, sollte er sich über das Gesetz stellen. "Er ist genauso an das Rechtsstaatsprinzip gebunden wie jeder andere in diesem Land", sagte der ehemalige Generalstaatsanwalt Dominic Grieve der BBC. "Wenn er sich nicht daran hält, kann er vor Gericht verklagt werden. Das Gericht würde nötigenfalls eine Verfügung erlassen, die ihn dazu verpflichtet (...), hält er sich nicht an die Verfügung, könnte er ins Gefängnis geschickt werden."
Bei Protesten für und gegen den EU-Austritt Großbritanniens kam es am Samstag in London teilweise zu bedrohlichen Szenen. Wie die britische Nachrichtenagentur PA berichtete, musste die Polizei Gruppen mit jeweils mehreren Hundert Menschen am Parliament Square auseinanderhalten. Vereinzelt soll es zu gewaltsamen Übergriffen der als rechtsextremistisch geltenden Fußballfan-Vereinigung Football Lads Alliance (FLA) auf Brexit-Gegner und Polizeibeamte gekommen sein. Die FLA hatte ihre Anhänger zur Demo für den Brexit aufgerufen.
Die ehemalige konservative Parlamentsabgeordnete und Brexit-Gegnerin Anna Soubry sagte aus Angst vor Attacken der Fußballfans ihre geplante Rede am Parliament Square ab. "Ich bin eine Parlamentarierin und ich habe das Recht zu sprechen und ich sollte keine Angst haben, aber es ist sehr, sehr, sehr verstörend und ich habe eigentlich sehr große Angst", sagte Soubry laut PA. Vor dem Regierungssitz Downing Street forderten Hunderte Demonstranten Johnsons Rücktritt.
stu/nob (dpa, rtr)