1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Neues vom Vordenker

Martin Muno28. November 2012

Er ist der Popstar unter den deutschen Philosophen. In seinem Buch "Zeilen und Tage" legt Peter Sloterdijk eine rasante Mischung aus Aphorismen und Reflexionen vor, in der sogar Hegel mit Pornographie kombiniert wird.

https://p.dw.com/p/16qMU
Der Philosoph Peter Sloterdijk nimmt am 15.10.2012 auf einer Pressekonferenz in München (Bayern) teil. Sloterdijk hat den Text zu der Oper «Babylon» geschrieben, die am 27.10.2012 an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt werden soll. Foto: Andreas Gebert/dpa
Bild: picture-alliance/dpa

Peter Sloterdijk steht zweifellos an der Spitze der populären und besonders bekannten Philosophen in Deutschland. Im Zweijahresrhythmus legt er ein neues Buch vor, hält Vorträge über Gott und die Welt, moderierte jahrelang eine philosophische Fernsehsendung und schrieb sogar ein Opernlibretto. Jetzt erschien der erste Band seiner Tagebücher, die es ermöglichen, den Philosophen beim Denken über die Schulter zu schauen.

Tagebuch ist dabei ein irreführender Gattungsbegriff, denn es geht Sloterdijk nicht darum, Privates oder gar Intimes preiszugeben. Der Leser erfährt lediglich, dass der Meisterphilosoph auch privat Umgang mit so manchem Prominenten pflegt, dass er immens viel, aber zunehmend ungern reist, Unmengen an Büchern liest und gerne Rennrad fährt. Sloterdijk will seine tagtäglichen Betrachtungen lieber in der Tradition der "Cahiers" von Paul Valery angesiedelt wissen und teilt deshalb im Vorwort mit, dass für die gedruckte Ausgabe allerhand "Peinliches und Belangloses" gestrichen habe.

Im Gegensatz zu Valerys Heften, die nachträglich thematisch geordnet wurden, bleiben die Einträge Sloterdijks chronologisch. Das ist schön zu lesen, noch schöner wäre es allerdings, wenn die Unzahl von Namen, Themen und Orten in einem Register gebündelt worden wären.

Lesenswerte Aphorismen

"Man hätte eine Sonne werden sollen und ist ein Sparbuch geworden." Es sind solche lakonischen Sätze, die das Buch so lesenswert machen. Am 5. Juni 2010 notiert ihn Sloterdijk in sein Notizbuch und es folgen Überlegungen zum Gottesbegriff des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Einen knappen Monat später findet man die Sentenz: "Seit ich begonnen habe zu schreiben, schwebt mir ein Buch vor, das zeigen sollte, Wahrheit ist nicht die Eigenschaft von Sätzen, sondern von Sommertagen." Damit überschreitet der Philosoph die Schwelle zur Poesie und die Leser freuen sich.

Überhaupt zeigt sich Sloterdijk nicht als spartanischer Bewohner eines akademischen Elfenbeinturms, sondern allen sinnlichen Erfahrungen durchaus zugewandt. Doch zugleich kritisiert er die Obszönität einer solchen Sinnlichkeit mit erfrischend ätzenden Worten, etwa, wenn er einen neuen Straftatbestand "Aufreizung zur Magersucht" ins Spiel bringt: "Ein solcher Paragraph würde es erlauben, Moderatorinnen von Model-Shows hinter Gitter zu bringen. Hätte der Neoliberalismus Titten aus Zement, er sähe aus wie Heidi Klum."

"Medien können nicht warten"

Dazwischen kommentiert Sloterdijk immer auch das tagespolitische Geschehen – meist allerdings, um sich Gedanken um deren mediale Aufarbeitung zu machen. Ob er über die Katastrophe bei der Love-Parade mit 21 Toten nachdenkt, über den überraschenden Rücktritt Horst Köhlers oder über die Debatte des islamfeindlichen Buches von Thilo Sarrazin – immer mokiert er sich darüber, wie Medien Themen unstatthaft dramatisieren: "Nach dem Übergang zur Demokratie liefern die Massenmedien das funktionale Äquivalent zur Hölle."

Er erinnert daran, dass nach der Fukushima-Katastrophe die englisch sprechenden Menschen aus Tokio geflohen sind, "weil sie verstehen, was die ausländischen Kommentatoren sagen, während die einsprachigen Japaner, von Beschwichtigungsreden der Offiziellen hingehalten, ratlos in ihren Wohnungen ausharren". Hintergrundinformationen dazu wünscht er sich von den Medien. "Man möchte auf der Stelle Erklärendes über das weltweit aktive Unruhethema hören, die Medien können und wollen nicht warten. Aber man soll nicht philosophieren, solange die Toten nicht bestattet sind."

Peter Sloterdijk Zeilen und Tage Copyright: Suhrkamp
Bild: Verlag Surhkamp

Hegel, Kant, Derrida, Nietzsche

Die besten Passagen sind die, in denen Sloterdijk sich ganz in freien Assoziationen verliert."Kannst du dir Hegel vor dem Fernseher vorstellen", fragt er am 27. August 2009, um fortzufahren: "Mit der Fernsteuerung in der Hand, wie er beim Umschalten erstarrt, sobald er nach Mitternacht auf einen Schmuddelsender gerät, in dem für Anrufe bei extremfeuchten Girls geworben wird, die keuchend Telefonnummern nennen? Welche Auswirkungen hätten solche Erfahrungen auf seine Philosophie gehabt?“

Doch auch die an klassisch philosophischen Fragen Interessierten finden in den Notizen einen regelrechten Steinbruch an Themen, aus denen sie sich bedienen können: So arbeitet sich Sloterdijk immer wieder an seinen Lieblingsdenkern und -gegnern ab. Derrida, Nietzsche, Kant, aber auch Slavoj Žižek finden in zahlreichen Einträgen Erwähnung. Und auch hier wieder erfrischende Kritik an der eigenen akademischen Disziplin: "Wo gibt es sonst noch eine Subkultur, in der die Unfähigkeit, klare Sätze zu bilden, so hoch belohnt wird?"

Manchmal nervt das übertriebene Selbstbewusstsein Sloterdijks. Selbstverliebt schreibt er, dass seine Vorträge stets gut besucht sind , seine Bücher in viele Sprachen übersetzt werden und dass die Verleger mit seiner Produktivität kaum Schritt halten können. Doch das große Ego produziert auch große Texte. Weswegen eine Fortsetzung der Tagebuchveröffentlichung ein Gewinn sein wird.