May-Nachfolge: Neun gegen Boris
11. Juni 2019Seitdem am Wochenende Michael Gove zugeben musste, dass er in seinen wilden Jahren gelegentlich gekokst habe, ist der Ansturm auf die Nachfolge von Theresa May in der britischen Presse vollends zur Comedy geworden. Es sei die Frage sei, was die zehn Kandidatinnen und Kandidaten geraucht, geschnupft oder genommen hätten, um ihre eigenen Fähigkeiten dermaßen zu überschätzen, rätselt die Presse. Trotzdem beginnt an diesem Nachmittag das mächtige konservative Hinterbänkler Komitee im Unterhaus mit den Anhörungen ganz ohne Rauschmittel.
Michael Gove - der serielle Pechvogel
Er galt als Kompromisskandidat- für die Brexiteers gerade noch erträglich und für die Gemäßigten in der konservativen Partei ein Hoffnungsschimmer. Michael Gove hoffte, seinem alten Rivalen Boris Johnson den Sieg abjagen zu können. Er könne die gespaltene und seit der Europawahl von Untergangsängsten gepeinigte Tory-Partei zusammenführen, so sein Versprechen. Außerdem galt er als einer der intelligenteren, kreativeren Minister in Mays Kabinett der Mittelmäßigkeit.
Als Gove aber jetzt in der Sonntags-Talkshow der BBC zugeben musste, in seinen Anfangsjahren als Journalist mehr als einmal Koks geschnupft zu haben, half ihm auch das tiefste Bedauern nicht mehr. Das sei strafbar, er könne mit einem Einreiseverbot für die USA belegt werden und überhaupt sei der Kandidat einfach scheinheilig, triumphierten seine Gegner. Hatte er nicht als Bildungsminister Lehrer mit Entlassung bedroht, die mit Drogen erwischt wurden?
Bei der offiziellen Vorstellung seiner Kandidatur am Montag schien Gove dann seltsam gebremst. So als ob er spürte, dass er das Rennen schon verloren hat. Nach dem Referendum 2016 war der Kandidat mit seiner Bewerbung um die Nachfolge von David Cameron bereits einmal gescheitert, weil er damals seinen Kompagnon Boris Johnson verriet. Jetzt bringen ihn ein paar Gramm weißes Pulver um seine zweite Chance. Michael Gove, politisch einer der vernünftigeren Tories, scheidet wohl als serieller Pechvogel aus.
Jeremy Hunt - der halbwegs sichere Steuermann
Der Außenminister kann inzwischen die Unterstützung von Amber Rudd, einflussreiche Vertreterin der gemäßigten Tories und Pro-Europäerin, für sich verbuchen. Sie erhöht seine Chance, als zweiter Sieger in die Endrunde zu kommen, wenn Michael Gove ausfällt. Jeremy Hunt sonnte sich beim Staatsbesuch von Donald Trump auffällig in dessen Glanz und betont ständig seine internationale Erfahrung. Zumindest hat er das Amt ohne größere Skandale verwaltet, obwohl er Zweifel an seiner Urteilsfähigkeit weckte, als er im vorigen Jahr die EU mit der Sowjetunion verglich.
Hunt verspricht, Großbritannien am 31. Oktober aus der EU zu führen, ob mit oder ohne Deal. Andererseits gehört er nicht zu den echten Brexit-Hardlinern und betont, er wolle ein neues Abkommen mit Brüssel. Die deutsche Bundeskanzlerin habe ihm unlängst erklärt, man könne über alles Mögliche reden. Es wäre interessant die Darstellung von Angela Merkel zu dieser Begegnung zu hören. Immerhin ist Hunt so ehrlich zuzugeben, dass ein No-Deal-Brexit "politischer Selbstmord" wäre und in einem Misstrauensvotum und Neuwahlen enden könnte.
Hunt gilt als einer der "Erwachsenen" in der Kandidatenriege und als möglicher sicherer Steuermann, politisch eher ein Mann der Mitte aber wenig glanzvoll. Er könnte das Rennen gewinnen, wenn die Konservativen vor der Alternative zu viel Angst haben.
Dominik Raab - der Brexit-Mann
Der frühere Brexit-Minister will seinen Brexit hart und ohne Wenn und Aber. Die Verhandlungen mit Brüssel, an denen er doch im Auftrag von Theresa May teilgenommen hatte, waren eigentlich von vorne herein Verrat. Dominik Raab will sogar das Parlament auflösen, um ohne dessen unwillkommene Einmischung einen harten Brexit durchzupeitschen. Demokratische Kleinigkeiten wie Misstrauensvoten und Neuwahlen müssten vorerst zurückgestellt werden. Sein prominentester Unterstützer ist David Davis, sein Kollege als Ex-Brexit-Minister. Beide scheinen sich in Brüssel radikalisiert zu haben.
Raab hat außer dem Brexit kein erkennbares politisches Programm. Höchstens noch eine teure Steuersenkung, die aber durch die Mehreinnahmen nach dem Brexit leicht zu finanzieren sein werde, so wohl seine Hoffnung. Im ideologisierten Großbritannien dieser Tage sind Raabs Chancen auf den Einzug in die Downing Street aber eher gering. Die Tories spüren, dass sie mit ihm keinen Staat machen und keine Wahlen gewinnen können.
Boris Johnson - der Unvermeidliche
Die Schwäche der Gegner ist seine größte Stärke. Die Wettbüros sehen Boris Johnson sicher auf der Siegerstraße. Dabei spricht fast alles gegen diesen Kandidaten: Er war als Außenminister ein Desaster, gilt als gewohnheitsmäßiger Lügner, Ehebrecher und Betrüger seiner Lebensgefährtinnen und selbst seine Anhänger sehen ihn als Schlawiner. Seine Gegner aber halten ihn für einen gefährlichen Scharlatan, arbeitsscheu, egozentrisch und grenzenlos ehrgeizig.
Johnson verspricht den Brexit für den 31. Oktober, ob mit oder ohne Deal. Zwar will er das Abkommen mit der EU im Prinzip neu verhandeln, aber gerade seine Chancen stehen dafür schlecht. Denn auf EU-Seite schlagen ihm Misstrauen und Abneigung entgegen. Man kennt ihn zu lange und zu gut. Außerdem garniert Boris Johnson seinen Brexit-Plan mit einer Prise Erpressung gegenüber Brüssel: Er werde die Ausstiegs-Rechnung von 39 Milliarden Euro für die EU-Kasse einfach nicht zahlen, dann würden die Europäer schon einlenken. Damit sichert er sich die Rückendeckung der harten Brexiteers im Parlament.
Der Kandidat träumt davon, als zweiter großer "Aufrührer" neben Donald Trump auf der Weltbühne zu agieren. Man müsse in die Verhandlungen mit der EU gehen und ordentlich auf den Tisch hauen, dann werde es schon laufen. Seine weiteren politischen Pläne will Johnson erst am Mittwoch erläutern, nur eine Steuererleichterung für Besserverdienende hat er schon angekündigt. Damit schielt er eindeutig auf die Tory-Basis, deren Mehrheit davon profitieren dürfte und deren Stimmen am Ende den Ausschlag geben. Nicht ohne Grund gilt Boris Johnson als heilloser Opportunist. Und was immer er jetzt verspricht: Niemand kann sicher sein, dass er sich später daran halten wird.
Warum aber hat ein so zweifelhafter Kandidat die größten Erfolgschancen? Viele Briten finden ihn amüsant, seine Witzeleien exzentrisch und seine Fehler verzeihlich. Und bei den Konservativen gilt er bei allen ernsthaften Zweifeln an seiner Tauglichkeit doch als einziger, der eine Wahl gewinnen und die Tories vor der Brexit-Partei von Nigel Farage retten könnte. Wenn nicht etwas Unerwartetes geschieht, ist es fast unvermeidlich, dass Boris Johnson in der Endrunde landet und die Parteibasis ihn zum Nachfolger für Theresa May macht.
Javid, Leadsom, McVey, Harper, Hancock und Stewart - die Sechs unter ferner liefen
Die meisten dieser Namen sind selbst in Großbritannien nicht bekannt. Aus dieser Kandidatenriege hat allenfalls noch Innenminister Sajid Javid eine Chance auf eine ehrenhafte Nennung. Seine Aufstiegsgeschichte vom Sohn eines pakistanisch-stämmigen Busfahrers zum Spitzenpolitiker ist beeindruckend und würde den Konservativen neue Wählerschichten erschließen. Aber er ist zu wenig radikal beim Brexit, zu gemäßigt bei der Migration und generell eher zu vernünftig, um diesen Wettbewerb zu gewinnen.
Zu diesen Kandidaten aus der zweiten Reihe gehört übrigens nur ein Brexit-Gegner, der außerdem eine interessante Vergangenheit hat. Rory Stewart wanderte als junger Mann durch Afghanistan und schrieb darüber ein beachtetes Buch. Und er zeigt, dass er den Mut zur eigenen Meinung hat, was bei den Tories aber derzeit nicht zählt.
Ein höchst eigenwilliges Verfahren
Am kommenden Donnerstag läuft eine erste Abstimmung unter den konservativen Abgeordneten im Unterhaus. Wer dabei weniger als 5% der Stimmen erzielt, ist raus. Beim nächsten Mal wird die Hürde auf 10% erhöht und nach einer Reihe solcher Runden sollen Ende Juni zwei Kandidaten übrig sein, die in einen internen Wahlkampf gehen. Am 22. Juli stimmen schließlich die Parteimitglieder in einer Art Urwahl für ihren Lieblingskandidaten, der dann ohne weitere Umstände neuer Premierminister wird.
So kommt es dazu, dass rund 120.000 Mitglieder der konservativen Partei, die alles andere als repräsentativ sind, für die Mehrheit der Briten, ohne allgemeine Wahl oder andere Umstände den nächsten Premierminister bestimmen können. Der Grund dafür ist das Gesetz über die festgesetzte Legislaturperiode, die automatisch fünf Jahre beträgt und einen einfachen Austausch des Premierministers möglich macht. Über ihm oder ihr hängt allerdings stets das Schwert eines Misstrauensvotums. Danach blieben den Tories zwar noch einmal zwei Wochen, einen weiteren Regierungschef zu ernennen, aber faktisch wären Neuwahlen unvermeidlich. Wer immer also nach Theresa May in die Downing Street einzieht, sollte sich nicht zu früh freuen - er kann sich schnell auf einem Schleudersitz finden.