Neuwahlen als Glücksspiel
18. April 2017Auch wenn es am Dienstag zunächst überraschte: Seitdem Großbritannien am 23. Juni 2016 für den Brexit stimmte, David Cameron zurücktrat und Theresa May Premierministerin wurde, stand die Möglichkeit einer vorzeitigen Wahl im Raum. May hat dagegen stets bestritten, dass sie Neuwahlen plant.
Im September 2016 hatte sie betont, dass es diese nicht geben werde. "Wir brauchen Zeit und Stabilität, um mit den Problemen des Landes umzugehen. Die Wahlen sollten 2020 stattfinden." Und noch vor einem Monat hatte Downing Street bestritten, dass eine frühe Wahl anvisiert wird.
Was hat sich also geändert? In den vergangenen Monaten hat May ihre Vision für einen harten Brexit, in dem Großbritannien sich komplett aus der EU zurückzieht, verkündet. Als sie jetzt die Neuwahlen am 8. Juni ankündigte, machte sie deutlich, dass sie ihr Mandat für ihre Vorhaben stärken wolle. "Dies ist ein Moment von enormer nationaler Bedeutung hier in Großbritannien; in Westminster sollte Einigkeit herrschen." Sie brauche Einigkeit im Parlament, und die gebe es derzeit nicht.
Die Zahlen deuten darauf hin, dass May ihre derzeit kleine Mehrheit mit einer Neuwahl deutlich erhöhen könnte, denn die Labour-Partei wird durch interne Konflikte zerrissen. Wenn man den Durchschnitt aller Meinungsumfragen nimmt, kommen die Konservativen aktuell auf 42 Prozent und die Labour-Partei auf 27 Prozent - genug, um eine Mehrheit für May zu liefern.
Ein zynischer Zug?
Die Reaktionen auf Mays Ankündigung fallen höchst unterschiedlich aus: "Das ist eine brillante Taktik seitens des Premierministerin", sagt Matthew Brooke, ein Ingenieur aus Leeds, der für den Brexit gestimmt hat. "Die Labour-Partei bietet keine glaubwürdige Opposition, alle Brexit-Anhänger - viele von ihnen sind auch Labour-Wähler - werden rausgehen, um zu wählen und ihre Zustimmung zu zeigen."
Das Brexit-Referendum im Juni enthüllte tiefe Gräben in der britischen Öffentlichkeit. Einige fürchten nun, dass die Wahl eine Wiederholung des Referendums sein wird - mit ähnlichen Erschütterungen für die Gesellschaft. "Dies ist ein zynischer Zug von May, die eindeutig die Regierungsmehrheit erhöhen will, damit sie ihren harten, wirtschaftlich katastrophalen Brexit ohne Widerstände durchbringen kann", sagt Zoe Lawrence, die in London für eine Wohltätigkeitsorganisation arbeitet. "Sie spricht über das nationale Interesse, aber eigentlich geht es nur um die Interessen der Konservativen. Wie können wir sonst den Aufwand und die Aufregung, die mit einer Wahl einhergehen, so kurz nach dem Referendum rechtfertigen?"
Auch Peter Franklin, ein Schriftsteller aus Belfast, sieht viele Risiken: "Wir stehen vor einer politischen Krise in Nordirland, die von den Politikern in Westminister weitgehend ignoriert wurde; die Schotten fordern erneut ihre Unabhängigkeit", sagt Franklin. "Es scheint, ehrlich gesagt, unverantwortlich, in diesem Zusammenhang eine Wahl abzuhalten. Was ist mit dem Bedürfnis nach Stabilität passiert?"
Ein Glücksspiel
Natürlich sind die Neuwahlen auch ein Glücksspiel für May: Obwohl die Labour-Partei in den Umfragen schlecht abschneidet, befinden sich viele Labour-Abgeordnete auf sicheren Sitzen. Außerdem ist die Meinung über den Brexit auch unter konservativen Wählern geteilt; eine Mehrheit könnte somit geringer ausfallen, als May sich erhofft. Die Liberaldemokraten, die derzeit nur acht Abgeordnete haben, kämpfen zudem auf einer Anti-Brexit-Plattform für Nachwahlen und haben sich verpflichtet, ein zweites Referendum abzuhalten. Parteichef Tim Farron hat sofort eine Erklärung abgegeben, in der sich die Liberaldemokraten als Anti-Brexit-Option positionieren: "Wenn du einen katastrophalen harten Brexit vermeiden willst, wenn du Großbritannien im Binnenmarkt behalten willst, wenn du ein Großbritannien willst, das offen, tolerant und vereint ist - dann ist das deine Chance", heißt es darin.
Deshalb sehen einige Remain-Wähler die neueste Entwicklung auch als Chance. "Vielleicht können wir einige Abgeordnete gegen Kandidaten austauschen, die alles dafür tun werden, um in der EU zu bleiben", sagt Aisha Hazaria, eine Sachbearbeiterin aus Edinburgh. "Natürlich werden wir nicht gewinnen, aber zumindest wäre es eine Gelegenheit, die Debatte neu zu eröffnen. Gerne würde ich Allianzen quer über alle Parteien hinweg sehen. Ich persönlich werde auch für Remain-Kandidaten unabhängig von ihrer Partei kämpfen."