Protestaktion gegen EU-Asylsystem
30. März 2012Hassan Nour Ali kommt aus Somalia. Zurzeit ist er in einem Flüchtlingsheim am Stadtrand von Berlin untergebracht. Der Endvierziger mit Glatze und stämmiger Statur hat eine regelrechte Odyssee hinter sich: Von Somalia ging es über den Sudan nach Libyen, von dort fuhr er in einem winzigen Boot zusammen mit 29 weiteren Somalis übers Mittelmeer. Zwei Tage dauerte die quälend lange Bootsreise, bis sie ihr Ziel erreichten: den EU-Inselstaat Malta.
"Nicht zurück nach Malta, vorher bringe ich mich um"
Der Tag der Einreise war der 15. Juni 2008. Doch statt endlich in Freiheit zu sein, kam Hassan Nour Ali erst einmal in ein Auffanglager, das für ihn wie ein Gefängnis war. Für eineinhalb Jahre fühlte er sich behandelt wie ein Krimineller, erzählt der müde wirkende Mann. Die Zeit im maltesischen Auffanglager war für den Somalier die Hölle: "Ich hatte furchtbare Schmerzen, aber es gab keine Tabletten, es gab nichts." Das Essen sei abscheulich gewesen, frische Kleider habe er auch nicht bekommen. Beschwerte er sich, bestrafte ihn die Polizei. "Ein Polizist hat mir meine Kleider weggenommen und mich nackt an einem Pfahl in die Kälte gestellt, einen Tag lang."
Dabei war Hassan gerade erst vor den grauenhaften Verbrechen einer islamistischen Gruppe aus seiner Heimat geflohen. "Meine Frau ist tot, meine drei Kinder sind tot, mein Geld ist weg, mein Haus auch", sagt der Somali. Selbst seinen Vater als letzten Angehörigen hätten sie umgebracht. "Jetzt bin ich alleine." Von Malta ging es für Hassan Nour Ali in die Niederlande, zuletzt wollte er in Deutschland einen Asylantrag stellen. Doch hierzulande wird er nur geduldet - jederzeit könnte es zurück nach Malta gehen. Im Januar sei zum ersten Mal ein deutscher Polizist im Flüchtlingsheim auf ihn zugekommen, um ihn über die geplante Abschiebung zu unterrichten. "Ich sagte, ich gehe nicht nach Malta, vorher bringe ich mich um."
Hassan Nour Ali will in Deutschland leben: Doch das entspricht nicht den Dublin-II-Regeln. In der irischen Hauptstadt hatten sich die EU-Staaten vor neun Jahren auf ein gemeinsames Asyl-Abkommen geeinigt. Demnach muss ein Verfolgter in jenem Land Asyl beantragen, in dem er das Hoheitsgebiet der Europäischen Union betritt. In Hassan Nour Alis Fall also in Malta.
Statt Abschiebungen mehr Menschlichkeit
Immer wieder berichten Asylbewerber von ähnlichen Übergriffen in den Ländern ihrer Ankunft. Das seien unhaltbare, menschenverachtende Zustände, sagt Lothar Steiner vom Aktionsbündnis gegen Dublin II. "Die EU-Verordnung stellt für uns einen weiteren Baustein in einer europäischen Abschottungspolitik dar, wodurch die Lebensqualität von Flüchtlingen herabgesetzt werden soll, in ganz Europa - insbesondere in Frankreich und Deutschland."
Dabei sind selbst die EU-Staaten nicht alle einverstanden mit der Regelung - die Debatte zwischen ihnen um die Zukunft des Dublin-II-Verfahrens ist vielschichtig und kontrovers. Auf Ebene der EU-Institutionen wurde der Reformbedarf längst erkannt. Einige Mitgliedstaaten wollen die Erststaatenregelung kippen, vor allem Deutschland hält daran aber fest. Die EU-Kommission treibt unterdessen neue Verhandlungen über gemeinsame Mindeststandards und menschliche Unterbringungsbedingungen voran. Langfristiges Ziel ist ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS), das mit Unterstützung aller EU-Staaten hilft, Mindeststandards bei der Flüchtlingsaufnahme in Südeuropa sicherzustellen.
Zuletzt haben sowohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) wie auch das deutsche Bundesverfassungsgericht wiederholt "Überstellungen", wie die Flüchtlingstransfers in Beamtendeutsch heißen, innerhalb von Europa gestoppt. Ein Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2011 hat das System als Ganzes sogar infrage gestellt und die bereits davor begonnene Reformdebatte noch befeuert.
Deutschland hat beispielsweise einen bis Anfang 2013 gültigen Rückführungsstopp nach Griechenland erlassen - wegen der schlechten Lebensbedingungen für Flüchtlinge in den Auffanglagern. Für andere Länder der Südperipherie gilt dieser Stopp aber nicht. Und auch am Grundprinzip des Systems will Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) nicht rütteln.
Am Donnerstag (29.03.2012) billigte das EU-Parlament ergänzend zu den Dublin-II-Regeln ein sogenanntes Neuansiedlungsprogramm, wonach die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge in Europa unter den Mitgliedsstaaten besser abgestimmt werden soll. Danach soll es Listen geben von Flüchtlingen, die bevorzugt in der EU aufgenommen werden sollen. Darunter könnten Flüchtlinge aus dem Kongo, Ostafrika, dem Irak, der Türkei, Syrien, dem Libanon oder dem Sudan fallen. Verbindliche Quoten, wie vielfach gefordert, planen die EU-Mitgliedsstaaten nicht.
Druck auf die EU
Beim Aktionsbündnis gegen Dublin-II verfolgt man die jüngste Reformdebatte der EU genau. An ihrer Hauptforderung hält das Bündnis unterdessen aber unbeirrt fest: Sie fordern einen sofortigen Stopp der Erststaaten-Regelung, die zwangsläufig dazu führe, dass vor allem in den Ländern am südlichen und östlichen Rand der EU Asylverfahren bearbeitet werden: in Polen, Spanien, Italien, Griechenland und Malta. In Staaten, deren Behörden vielfach überlastet und deren Unterbringungsbedingungen für Flüchtlinge teilweise katastrophal seien, sagt Steiner: "Menschen, die in Deutschland oder in Europa Asyl beantragen, sollten nicht anders behandelt werden als die anderen Bürger, die hier wohnen." Wir möchten, dass die Leute sich frei bewegen können, um sich nach ihren sozialen Bindungen selbst jenen Ort zu suchen, an dem sie einen Asylantrag stellen wollen.
Deshalb wollen Hassan Nour Ali und das Aktionsbündnis gegen Dublin-II gemeinsam kämpfen: Für seinen Asylantrag in Deutschland und gegen seine innereuropäische Abschiebung. "Nachts kann ich nicht mehr schlafen, ich habe Alpträume von Malta", sagt er. Auf keinen Fall will er dorthin zurück.