Nicaragua: Bald ein zweites Venezuela?
23. Juli 2018Im April waren die Aussichten noch rosig. Der nicaraguanischen Wirtschaft schien es gut zu gehen. Hajo Lanz, Vertreter der Friedrich Ebert-Stiftung (FES) für Nicaragua, findet es "erstaunlich, dass ein so kleines Land wie Nicaragua in den letzten 15 Jahren ein relativ hohes Wirtschaftswachstum haben konnte". Noch im ersten Quartal 2018 betrug das Wachstum der nicaraguanischen Wirtschaft nach Angaben der Nationalbank 9,3 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2017.
Doch mit dem Beginn der innenpolitischen Krise am 18. April veränderten sich die Vorzeichen dramatisch. Die nicaraguanische Regierung ging vor dem Ausbruch der Krise von einer Wachstumsrate für 2018 von 4,5 bis 5 Prozent aus. Aktuell rechnet die Zentralbank nur noch mit 0,5 bis 1,5 Prozent Wachstum.
"Der Wirtschaftskurs Nicaraguas war liberal, obwohl die Regierung sich selbst als sozialistisch, christlich und solidarisch bezeichnet", meint Hajo Lanz. Aber "große Teile der nicaraguanischen Wirtschaft befinden sich in den Händen der Familie von Präsident Daniel Ortega und seiner Anhänger", fügt er hinzu. "Viele Menschen fühlen sich nicht ausreichend am Wachstum der letzten Jahre beteiligt. Die soziale Ungleichheit im Land wächst und auch deswegen gehen nun viele Nicaraguaner auf die Straße."
Ein zweites Venezuela?
Die Protestwelle im Land und deren Unterdrückung durch regierungstreue Milizen, die mehr als 300 Menschenleben gefordert hat, beeinträchtigt die Wirtschaft des Landes nachhaltig. Barrikaden behindern den Transport von Gütern und den Weg der Menschen zur Arbeit.
Für 2018 erwartet die Ratingagentur Fitch Ratings einen Anstieg des Defizits auf 8 Prozent des Bruttoinlandprodukts; die Gründe dafür sind der Anstieg der Ölpreise, die Verluste im Tourismus- und Agrarsektor und die institutionelle Krise des Landes. Die Agentur schätzt das Wirtschaftswachstum für 2018 auf 1,7 Prozent ein.
Könnte die politische und wirtschaftliche Krise in Nicaragua zu einer vergleichbaren Sackgasse wie in Venezuela führen? "Es gibt mehrere Parallelen zwischen Venezuela und Nicaragua, sowohl in Bezug auf den autoritären, kurzsichtigen und gefühllosen Regierungsstil, als auch in der Art zu behaupten, man habe die beste politische und ethische Lösung in Form einer bestimmten Ideologie und einer einzigen Partei gefunden", sagt Hajo Lanz; er meint, Nicaragua befinde sich noch nicht am Abgrund, sei aber "auf dem Weg ein zweites Venezuela zu werden".
Nicht alles, was die Regierung Ortega getan habe, sei falsch, so der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung. In der Bevölkerung muss niemand hungern und es wurden viele soziale Projekte auf den Weg gebracht. "Aber dies hilft nicht, um die Forderungen nach mehr demokratischen Freiheiten zum Schweigen zu bringen", sagt Hajo Lanz. Der wirtschaftliche Kollaps des Landes gehe Hand in Hand mit der gesellschaftspolitischen Krise, und niemand wisse, was in einigen Monaten sein werde.
Um den Abwärtstrend des Landes sowohl politisch wie auch wirtschaftlich aufzuhalten, sieht Lanz nur einen Ausweg: "Um die Talfahrt aufzuhalten, gibt es keine Alternative zu vorgezogenen, transparenten und fairen Wahlen."