Nick Cave: Konstante in Corona-Krisenzeiten
22. März 2020Am 23.03.2020 sollte sie eigentlich starten, die umfassende Ausstellung "Stranger Than Kindness" zu Ehren Nick Caves in der Dänischen Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Angekündigt wurde sie als "eine Reise in die kreative Welt des Musikers, Geschichtenerzählers und der kulturellen Ikone". Jetzt ist sie wegen der Corona-Krise verschoben worden.
Der imposante Anbau der Bibliothek mit dem klingenden Namen "Der schwarze Diamant" sollte der Schauplatz der ungewöhnlichen Ausstellung werden. Kann man sich einen passenderen Ort für Nick Cave vorstellen, einen der radikalsten und gleichzeitig beständigsten Künstler unserer Zeit?
Cave mag aufgrund seiner langen Musikergeschichte mittlerweile "reif fürs Museum" sein, aber seine Karriere ist es ganz und gar nicht. Als weltweit gefeierte Musik-Ikone, die regelmäßig Alben veröffentlicht, ist Cave nie wirklich außer Mode geraten. Er hatte und hat eine solide internationale Fanbasis. Aber gerade in den letzten Jahren bekam seine Karriere noch einmal ordentlich Schwung. Cave ist nicht nur einer der bekanntesten Musiker und Performer weltweit, sondern auch Schriftsteller, Filmkomponist, Comic-Held und seit einiger Zeit auch soziales Internet-Phänomen.
Von Australien nach England
Aber der Reihe nach. 1957 in Australien geboren, lernt Nick Cave als Schüler den Multiinstrumentalisten Mick Harvey kennen, mit dem er die Band The Boys Next Door gründet. Ende der Siebziger werden sie Teil der australischen Punkszene. Sie sind bekannt für ihre exzessiven Auftritte und ihren äußerst charismatischen Frontmann Cave.
1980 zieht die Band nach London und nennt sich fortan The Birthday Party. Auch in England sorgen die wilden australischen Boys mit ihrem elektrisierenden Sound, einer Mischung aus Punk, Blues und Rock, für Furore. Eindruck machen sie auch bei BBC-Radiolegende John Peel, dessen Lobeshymnen die Band vermutlich auch ihren ersten Plattenvertrag zu verdanken hat.
Es sind vor allem ihre Live-Auftritte, bei denen es stets um Leben und Tod zu gehen scheint, die bleibende Eindrücke hinterlassen. Schon damals wirkt der blutjunge Frontmann Nick Cave wie eine "alte Seele", seine existentialistische Haltung scheint ihm aus allen Poren zu strömen. Inspiration für seine Texte findet er in der streng anglikanischen Erziehung seiner Kindheit, im Alten Testament, in Italo-Western, bei Philosophen und Poeten wie John Milton oder William Blake.
Berlin und The Bad Seeds
Die Band The Birthday Party zieht bald nach Berlin um, wo Cave die umtriebige Szene lieben lernt und das Leben eines Bohémiens führt – inklusive einer lebensgefährlichen Heroinabhängigkeit, deren Wurzeln in seiner Teenagerzeit liegen. Als sich die Unstimmigkeiten in seiner Band zuspitzen, denkt er über eine Auflösung der Birthday Party nach. Auf Tour lernt er in einem Amsterdamer Hotel die Berliner Experimental-Band Einstürzende Neubauten und ihren Frontmann Blixa Bargeldkennen.
Kurz darauf ist The Birthday Party Geschichte, und die neue Combo The Bad Seeds ist geboren, mit Caves altem Weggefährten Mick Harvey und Blixa Bargeld an der Gitarre. Mit den Bad Seeds wird Nick Cave zu einer der führenden Figuren der Independent-Szene.
Independent, heute meist als "Indie" abgekürzt, war in den Achtzigern und Neunzigern weit mehr als eine schwammige Genrebeschreibung: "Indie" zu sein hieß zuerst, seine Musik auf einem unabhängigen Plattenlabel zu veröffentlichen. Später wurde daraus aber auch eine Haltung, die Musiker nach außen trugen. Sie stand für ein herzliches "Fuck you" an jede Form von Anbiederung.
Nick Cave verkörpert diese Haltung wie kaum ein anderer. Ob Piano-Balladen, Blues-beeinflusster Rock oder Folk – Nick Cave-Songs sind dank seiner markanten Bariton-Gesangsstimme, seinen Texten und vor allem ihrer ganz eigenen, wohlig-dunklen Atmosphäre sofort erkennbar.
Seit seiner ersten Band ist er sich und seiner künstlerischen Vision treu geblieben, seine Projekte haben stets die gleiche Tiefe, den schwarzen Humor und die magnetische Sogwirkung seiner Songs. Über die Jahre kollaboriert Cave immer wieder mit anderen Musiker*innen und Künstler*innen, die allesamt selbst Ikonen sind. Und die eine ähnliche Haltung haben wie er selbst, darunter der deutsche Regisseur Wim Wenders, die britische Sängerin PJ Harvey oder der 2003 verstorbene Johnny Cash.
Rockidol und Familienvater
Es scheint, als würde Cave über die Jahre immer produktiver. Er schreibt nicht nur eigene Songs, sondern auch Drehbücher, Romane und Filmmusik. In den neunziger Jahren verändert sich sein Leben radikal: Der Bohémien wird zum Familienvater. In Sao Paulo, wo er zu der Zeit lebt, bekommt Cave mit seiner Lebensgefährtin, einer brasilianischen Journalistin, einen Sohn. 1993 zieht die kleine Familie nach London, Cave und seine Frau trennen sich kurze Zeit später.
1996 veröffentlichen Nick Cave and the Bad Seeds ihr kommerziell erfolgreichstes Album "Murder Ballads". Das darauf enthaltene Duett mit Cave und Kylie Minogue mit dem Titel "Where The Wild Roses Grow" wird ein Welthit.
Dank seiner großen Liebe, der Schauspielerin Susie Bick, die er in London kennenlernt, besiegt Cave seine Heroinsucht. Die beiden heiraten während der Sonnenfinsternis 1999, ziehen gemeinsam nach Brighton an der malerischen englischen Südküste und bekommen Zwillinge. Hier spielt auch der mit vielen fiktiven Elementen angereicherte, autobiografische Film "20.000 Days on Earth", der 2014 beim Sundance Festival Premiere feiert.
Der Film beschreibt einen Tag in Nick Caves Leben und ist eine Zusammenfassung seiner Laufbahn, mit Weggefährten wie Warren Ellis, Blixa Bargeld und Kylie Minogue. In dem inspirierenden Werk der beiden Filmemacher Iain Forsyth und Jane Pollard, die gemeinsam mit Cave das Drehbuch schrieben, meditiert Cave vor allem über die Erfahrung von Transformation und Verbundenseins mit der Welt, die er während seiner Auftritte erlebt.
2015 passiert die größte Tragödie in Nick Caves Leben. Sein Sohn Arthur verunglückt im Alter von 15 Jahren tödlich, als er in Brighton nach einem Selbstversuch mit LSD von einer 20 Meter hohen Klippe stürzt. Der bis dahin privat eher zurückgezogene Cave verarbeitet seine Trauer mit dem Album "Skeleton Tree" und dem erschütternden, weltweit zur Album-Veröffentlichung einmalig gezeigten Dokumentarfilm "One More Time With Feeling" von Andrew Dominik. In diesem "110-minütigen Versuch des Exorzismus" (laut.de) sind der reale Nick Cave und seine Frau Susie in ihrem realen Schmerz zu sehen, bei dem Versuch, das Unfassbare zu verstehen und zu verarbeiten.
The Red Hand Files: Seelsorge im digitalen Zeitalter
Der Austausch zwischen Nick Cave und seinem Publikum war immer intensiv. Doch spätestens seit dem Tod seines Sohnes lebt Cave ihn nicht mehr nur auf der Bühne aus. Auf Tourneen unter dem Titel "A Conversation with Nick Cave" setzt sich der Musiker auf die Bühne, beantwortet Fragen aus dem Publikum, singt einige seiner Stücke und begleitet sich dabei am Flügel.
Er ermutigt sein Publikum dazu, mit den Fragen "konfrontativ und furchtlos" zu sein. Die Abende sind gänzlich improvisiert und unmoderiert, daher unwahrscheinlich direkt. Cave sagt dazu: "Ich dachte, eine direkte Konversation mit dem Publikum könnte wertvoll sein."
Und das ist sie. Sein Publikum dankt ihm seine Authentizität und Offenheit. Cave geht daraufhin einen Schritt weiter und entwickelt die Website "The Red Hand Files". Unter der Web-Adresse können Fans Nick Cave Fragen stellen über alles, was ihnen in den Sinn kommt. Von Fragen wie "Warum schreibst du?" bis hin zu der Frage über den Umgang mit der eigenen Wut in der Trauer um eine bei einem Attentat erschossene Angehörige ist alles dabei.
Caves Antworten sind teil überraschend, oft humorvoll und immer voller Empathie und Liebe für seine Fans. Die britische Tageszeitung "The Guardian" schrieb anerkennend: "In dieser wachsenden Fundgrube von Briefen an die Welt zeigt er uns, wie wir das Internet jenseits dem Tohuwabohu der sozialen Medien nutzen und reflektierte und bereichernde Konversationen führen können." Die "Red Hand Files" brächten "Trost in einem Zeitalter voller Tumulte." Das trifft natürlich besonders jetzt, in Zeiten von Corona, zu.
Nick Caves Konzerte gleichen mittlerweile einer spirituellen Messe, die er mit seinen Anhängern begeht. Er lässt sich dabei berühren, nimmt Hände, streichelt Gesichter. Das Ganze wirkt jedoch nie messianisch oder sektenhaft, sondern es ist immer der Musiker und Mensch Nick Cave, der da auf der Bühne steht. Der sonderbare Knabe aus Australien, der vor vielen Jahren seinen eigenen Bühnencharakter erfunden hat - und nun eins mit ihm geworden ist.
In der Ausstellung "Stranger Than Kindness - The Nick Cave Exhibition" in der Dänischen Königlichen Bibliothek werden mehr als 300 Exponate aus Leben und Karriere des Musikers zu sehen sein, darunter handschriftliche Songtexte, Literatur, Videos, Bühnenbilder und gesammelte persönliche Artefakte. Die Ausstellung, die für die Zeit vom 23. März bis zum 3. Oktober 2020 geplant war, ist wegen der Corona-Krise vorerst verschoben worden.