Ducarroz: Leidenschaft besiegt die Angst
1. August 2021Sie fliegt zwei Sekunden durch die Luft, macht mit ihrem Fahrrad einen Rückwärtssalto und landet wieder sauber auf der anderen Rampe: Backflip heißt dieser Trick, der in vielen Sportarten mit akrobatischem Hintergrund dazugehört.
Nur eines von vielen spektakulären Kunststücken, die BMX-Freestylerin Nikita Ducarroz und die acht anderen Fahrerinnen bei der Premiere dieser Sportart bei den Olympischen Spielen in Tokio zeigen. Dafür haben sie jeweils eine Minute Zeit in dem Park mit ganz unterschiedlichen Rampen und Sprungschanzen. Es gibt zwei Runden, das bessere Ergebnis wird am Ende gewertet. Mit 89.20 Punkten wird Ducarroz Dritte. "Ich bin sehr glücklich. Es hat mich viel Arbeit gekostet, um das hier zu erreichen", freut sie sich über ihre olympische Medaille.
Phobien, Panikattacken und Depressionen
Dass die Schweizerin Ducarroz - in Frankreich geboren, in den USA lebend - in Tokio überhaupt an den Start geht, ist so erstaunlich wie bemerkenswert: Seit ihrer Kindheit leidet sie an Phobien, Panikattacken und Depressionen. "BMX hat mein Leben gerettet", erklärt sie gegenüber der DW.
"Es passierte sukzessive, vermutlich schon als ich fünf oder sechs Jahre alt war und wurde immer schlimmer, sodass ich irgendwann gar nicht mehr das Haus verließ", erzählt sie, die ganz offen in der Öffentlichkeit und Medien über ihre psychischen Erkrankungen spricht. Sie hört auf, Fußball zu spielen, geht nicht mehr zur Schule, trifft keine Freunde mehr.
BMX-Freestyle: spektakulär und gefährlich
In der zweiten Final-Runde in Tokio, beim Three-Sixty, nicht mal ihr schwierigster Trick, passiert es dann: Ducarroz dreht sich mit dem Fahrrad in der Luft einmal um die eigene Achse. Bei der Landung ist ihr Gewicht zu weit links: Sie stürzt. Schnell rappelt sie sich auf, massiert kurz ihr linkes Knie und winkt Trainern, Betreuern und Journalisten im Ariake Urban Sports Park zu. Sie beendet vorzeitig ihre zweite Runde.
Es war einer von mehreren Stürzen beim BXM-Freestyle-Finale der Frauen - jede von ihnen kann jedoch selbständig den Park verlassen oder sogar weiterfahren. Das Verletzungsrisiko auf dem BMX-Rad ist hoch. "Angst? Die habe ich immer", gibt Ducarroz zu. "Aber so richtig nur, bevor es losgeht. Nach dem Start bin ich so fokussiert, dass ich kaum daran denke."
Die Leidenschaft für BMX ist größer als die Angst
Mit 14 Jahren sieht Ducarroz auf Youtube ein BMX-Freestyle-Video und ist fasziniert von dieser Sportart. "Das konnte ich direkt vor meinem Haus machen, dafür musste ich nicht irgendwohin", sagt sie. "Zum Glück habe ich mich in den Sport verliebt und die Leidenschaft genutzt, um mich meinen Ängsten zu stellen."
Sie traut sich, in einen Skatepark zu gehen. Sie meldet sich zum ersten Wettkampf an. Und dann steigt sie sogar in ein Flugzeug. "So habe ich langsam immer mehr gemacht - und jetzt bin ich hier." Panikattacken habe sie immer noch ständig: "Ich habe mit der Zeit gelernt, damit umzugehen."
Sportlich und mental ein Vorbild
Ducarroz zog vor über einem Jahr aus ihrem Elternhaus in Glen Ellen an der Westküste der USA nach Holly Springs an die Ostküste, um im Daniel Dhers Action Sports Complex, dem größten Actionsport-Trainingszentrum der Welt, trainieren zu können. Das hat sich ausgezahlt, mittlerweile wird sie in der Weltrangliste auf Platz zwei geführt.
In Holly Springs trainiert sie regelmäßig mit der US-Amerikanerin Hannah Roberts, der derzeit weltbesten BMX-Freestyle-Fahrerin und Silbermedaillengewinnerin in Tokio.
"Ängste - das ist ein Thema, über das wir Fahrerinnen oft miteinander sprechen. Es betrifft uns alle, Nikita natürlich ganz anders als uns", sagte Roberts vor dem Finallauf der DW. "Es ist toll, wie sie mit damit umgeht, wenn die Panikattacken kommen. Ich lerne viel von ihr."