Wie Zellen sich selbst verdauen
3. Oktober 2016Der japanische Zellbiologe Yoshinori Ohsumi vom Tokyo Institute of Technology erhält den berühmtesten Wissenschaftspreis der Welt für "seine Entdeckungen der Mechanismen der Autophagie." Das hatte das Nobelpreis-Komitee am 3. Oktober in Stockholm bekannt gegeben. "Die Arbeit von Yoshinori Ohsumi hat das Verständnis dieses lebenswichtigen, zellulären Prozesses dramatisch verändert", heißt es in der Erklärung.
In den letzten Jahren mussten sich immer wieder zwei bis drei Forscher gemeinsam den Nobelpreis teilen, weil das Komitee ihre Arbeit als gleichermaßen wichtig betrachtet hatte, um den jeweiligen Forschungsbereich voranzutreiben. Dieses Jahr ist Ohsumi der einzige Laureat.
Keine Überraschung für Biochemiker
Das Nobelpreis-Komitee hat die richtige Entscheidung getroffen, meint Volker Haucke, Direktor des Leibniz-Instituts für Molekulare Pharmakologie in Berlin, gegenüber der Deutschen Welle.
"Oshumi ist die Schlüsselfigur. Er war es, der den Prozess der Autophagie in Hefe beschrieben hat, als Forscher weltweit kaum wussten, dass es Autophagie überhaupt gibt."
So sind viele Forscher aus Ohsumis Forschungsbereich auch nicht überrascht über die heutige Bekanntmachung. "Jeder von uns hat damit gerechnet, dass er bald dran ist [den Nobelpreis zu erhalten]", sagt Thomas Wollert, Forscher am Max-Planck-Institut für Biochemie.
Müllabfuhr für giftiges Zellmaterial
Der Begriff Autophagie - auch als Autophagozytose bezeichnet - stammt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt soviel wie "Selbst-Verspeisung". Zellen nutzen diesen Prozess, um ihren eigenen Inhalt zu zerstören, wenn dieser keinen Nutzen mehr hat.
"Autophagie ist der entscheidende Weg, auf dem [der Organismus] sich um beschädigte Proteine [Eiweiße] oder Organellen [Zellbestandteile] kümmert, die sich mit der Zeit ansammeln", sagt Volker Haucke.
Wollert vergleicht es mit einer gelben Tonne, einem Recycling-System, das es den Zellen ermöglicht, unerwünschte Bestandteile in ihre Einzelteile aufzubrechen und für andere Zwecke wiederzuverwenden. Die Autophagie, sagt Wollert, ist entscheidend für die Gesundheit unserer Zellen: "Wenn Mitochondrien - die Kraftwerke der Zellen - geschädigt sind, können sie freie Radikale freisetzen. Die Zelle muss diese beschädigten Mitochondrien daher so schnell wie möglich loswerden."
Dann schließt die Zelle diese Organellen in Membranen ein, in sogenannte Autophagosome, die wie ein Müllbeutel funktionieren. Die Membranen transportieren den Abfall zu einer Recycling-Anlage, zu sogenannten Lyosomen. Dort werden die Zellabfälle durch verschiedene Enzyme in ihre Bestandteile zerlegt.
Hunger stimuliert das Zellen-Recycling
Durch die Entsorgung der beschädigten Proteine wirkt Autophagie auch Alterungsprozessen entgegen. Noch wichtiger ist, sagt Wollert, dass Autophagie es uns ermöglicht mit einem mangelnden Nährstoffangebot klarzukommen - also mit Hunger.
"Bei Hunger schließt die Zelle wahllos einen Teil ihres Zytoplasmas [eine Grundstruktur der Zelle] ein, verdaut ihn und gewinnt so Nährstoffe zurück. So kann die Zelle lebenswichtige Funktionen erhalten."
Wollert vergleicht es mit dem Fasten. Gibt es weniger Essen als normal oder gar keins, wird man zwar dünner, aber überlebt. "Autophagozytose setzt verstärkt ein, wenn man länger als zwölf Stunden nichts gegessen hat."
Wenn Forscher hingegen den Prozess der Autophagie durch genetische Veränderungen in Labortieren abschalten und sie für einige Zeit nicht füttern, sterben sie schnell, sagt Rupert Langer vom Institut für Pathologie der Universität Bern. "Sie können den Hungerstress dann nicht ertragen."
Andersherum deutet auch einiges daraufhin, dass Fasten durchaus gesund ist. Erst dadurch setzt nämlich die Erneuerung der Zellen ein. Autophagie hält also die Zellen jung.
"Eine ganze Serie eleganter Folgestudien"
Der belgische Biochemiker Christian de Duve hatte den Begriff Autophagie erstmals in den 1960er Jahren geprägt, nachdem er die Lyosomen in Lebergewebe entdeckt hatte. Dafür hatte er 1974 den Medizin-Nobelpreis erhalten.
Aber in den folgenden Jahrzehnten schien kein anderer Forscher an der Entdeckung interessiert zu sein - bis Yoshinori Ohsumi die Forschungen aufgriff. "Er widmete sein Leben der Autophagie", sagt Wollert.
In den frühen 1990er Jahren nutzte Ohsumi einen recht einfachen Organismus - Bäckerhefe -, um Gene zu identifizieren, die für den Prozess ausschlaggebend waren.
"In einer Serie eleganter Folgestudien klonte er verschiedene dieser Gene in Hefe und auch in den Zellen von Säugetieren und beleuchtete so die Funktion der verschlüsselten Proteine", schreibt das Nobelpreis-Komitee auf seiner Webseite.
Ohsumi veröffentlichte seine bahnbrechenden Ergebnisse 1992.
"Als klar wurde, dass dieser Mechanismus von so fundamentaler Bedeutung ist, erwachte das Interesse vieler Forscher", sagt Volker Haucke, Direktor des Leibniz-Instituts für Molekulare Pharmakologie. "Jetzt gibt es Jahr für Jahr Tausende von Publikationen zur Autophagie."
Wichtig für Krebs, Alzheimer, Autoimmunerkrankungen und vieles mehr
Noch stärker wurde das Interesse, als klar wurde, dass die Autophagie auch in menschlichen Zellen stattfindet und dass der Prozess unter anderem mit der Entstehung von Krebs oder auch neurodegenerativer Krankheiten und Autoimmunerkrankungen zu tun hat.
So sind Hirnzellen besonders auf eine gut funktionierende Autophagie angewiesen. Diese Zellen teilen sich nicht wie andere Zellen. Beschädigtes Zellmaterial sammelt sich in den Bereichen der Hirnzellen an, wenn die Autophagie unterbrochen oder verlangsamt wird.
Daher hoffen Forscher nun, neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer in den Griff zu bekommen, falls es ihnen gelingt, die Autophagie anzuregen.
Auch könnte das Verständnis der Autophagie dabei helfen, Krebs zu bekämpfen oder am Wachsen zu hindern. "Krebszellen nutzen Autophagie, um sich vor der Immunantwort des Körpers - aber auch vor Chemotherapie - zu schützen", sagt Rupert Langer von der Universität Bern.
So versuchen Ärzte derzeit durch klinische Studien herauszufinden, ob eine Chemotherapie effektiver ist, wenn die Autophagie gleichzeitig durch Medikamente blockiert wird.
Der 1945 geborene Yoshinori Ohsumi arbeitet noch immer als Professor am Tokyo Institute of Technology. Er zieht sich immer stärker aus der Forschung zurück, bedauert Wollert. "Vielleicht wird ihn dieser Nobelpreis [aber auch] dazu motivieren, doch noch weiter zu machen."