Nobelpreis für Tunesiens Zivilgesellschaft
9. Oktober 2015Die politische Ordnung des Landes stand auf der Kippe. Da schlossen sich verschiedene gesellschaftliche Kräfte zusammen, um Tunesien vor dem Absturz in einen Bürgerkrieg zu bewahren. Tatsächlich gelang es ihnen, die verfeindeten politischen Kräfte an einen Tisch zu holen und den gesellschaftlichen Konsens wieder herzustellen. Für diese Leistung hat das "Quartett für den nationalen Dialog" den diesjährigen Friedensnobelpreis erhalten.
Das Quartett bildete sich in einer politisch höchst angespannten Zeit. In den Monaten nach dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine im Januar 2011 schien die demokratische Ordnung des Landes akut bedroht. Der Lebensstandard vieler Bürger fiel, Arbeitslosigkeit und Inflation stiegen, das Land geriet mehr und mehr in eine Schuldenfalle. Angesichts dieser wirtschaftlichen Lage schienen Demokratie und Menschenrechte vielen Menschen als nachrangige Ziele, terroristische Anschläge häuften sich.
Tief gespaltene Gesellschaft
Die Gesellschaft, so schien es einen Moment, war nicht in der Lage, sich auf ein gemeinsames politisches Modell zu einigen. Das zeigte sich auch in der Verfassungsgebenden Versammlung. Ihre Arbeit kam nur schleppend voran, ein erster Verfassungsentwurf wurde von vielen Tunesiern abgelehnt. Das Land war tief gespalten in die einen, die auf eine eine säkulare Verfassung setzten, und die anderen, die eine islamisch geprägte wollten.
Ihren dramatischsten Ausdruck fand die Krise in zwei politischen Attentaten: Im Februar 2013 wurde Chokri Belaïd ermordet, ein links stehender Jurist und Politiker. Wenige Monate später, im Juli desselben Jahres, verübten Terroristen ein tödliches Attentat auf Mohamed Brahimi, Mitglied des linken Flügels des tunesischen Parlaments.
Der regierenden Ennahda-Partei wurde vorgeworfen, mit ihrem gemäßigt islamistischen Kurs die politische Gewalt im Land mit angeheizt zu haben. Es wurden Forderungen laut, Parteichef Rachid Ghannouchi müsse sich verantworten. Unter seiner Regie hatte die Ennahda-Partei die erste Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung Tunesiens gewonnen und stellte von Dezember 2011 bis Januar 2014 den Ministerpräsidenten.
Die Zivilgesellschaft wird aktiv
In dieser brenzligen Situation schlossen sich die Allgemeine Tunesische Arbeiter-Union (UGTT), der Tunesische Industrie-, Handels- und Handwerksverbdand (UTICA), die Tunesische Liga für Menschenrechte (LTDH) und der Tunesische Anwaltsverband zusammen. Ihr Anliegen: den nationalen Dialog zu fördern und einen politischen Kompromiss für die friedliche Zukunft aller Tunesier zu finden.
Vom Herbst 2012 an trafen sich die Mitglieder der Gruppe. Allein der Umstand, dass sie überhaupt tagte, wurde als wichtiges Zeichen gedeutet. "Es ist ein wichtiger Schritt, um die politische Krise zu lösen", erklärte damals der tunesische Historiker Habib Kazdaghli. "Er zeigt den wichtigen Platz, den NGOs im politischen Leben Tunesiens einnehmen."
Durch das Bemühen der Gruppe fanden vor allem die bislang zerstrittenen linken Gruppen des Landes zusammen und bildeten eine neue demokratische Allianz, die fortan ein Gegengewicht zu den Islamisten um die Ennhada-Partei darstellte.
"Historische Entscheidung"
Für den aus Tunesien stammenden DW-Journalisten Moncef Slimi ist die Vergabe des Nobelpreises an das Dialog-Quartett eine "historische Entscheidung".
"Dieses Quartett hat eine historische Rolle dabei gespielt, dass Tunesien ein Schicksal wie in Ägypten, wo das Militär geputscht hat, oder wie in Libyen, wo Bürgerkrieg herrscht, erspart geblieben ist. Im Vergleich zu anderen Ländern des arabischen Frühlings ist Tunesien deshalb eine Ausnahme und ein Vorbild für die arabische Region."
Das Quartett stehe inzwischen für den allergrößten Teil der tunesischen Bevölkerung. Es sei als politische und moralische Autorität anerkannt.
Der Friedensnobelpreis sei eine Ermutigung für das Land, den eingeschlagenen Kurs weiter zu verfolgen. "Tunesien steht in der Region unter Druck. Die Situation im benachbarten Libyen ist belastend. Aber auch die Lage in Ägypten, Syrien und im Jemen zeigt, unter welcher Spannung die arabische Welt steht. Darum ist die Entscheidung gut für Tunesien. Sie zeigt, dass die Welt hinter Tunesien steht."