Noch viel zu tun: Ein Jahr Russland in der WTO
22. August 2013So richtig zum Feiern ist keinem zumute: Russland weiß immer noch nicht so recht, ob der WTO-Beitritt gut oder schlecht für die eigene Wirtschaft ist. Und den Handelspartnern ist die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. "Russland macht genau das Gegenteil von dem, was es eigentlich hätte machen sollen", sagte 2012 der EU-Handelskommissar Karel De Gucht. Russland hatte diesen Vorwurf scheinbar überhört: Anlass für De Guchts Mahnung war die Einführung einer Recycling-Gebühr auf importierte Autos - und das wenige Tage nach dem WTO-Beitritt. Anfang Juli 2013 machte Brüssel dann ernst und legte eine Beschwerde bei der WTO ein. Nach geltendem Recht haben nun beide Parteien 60 Tage Zeit, den Streit beizulegen. Nach dieser Frist kann ein sogenanntes Panel zur Schlichtung eingesetzt werden. Auch wenn ein solches Verfahren Jahre dauern kann - Moskau hätte die schlechteren Karten. Die Bilanz des ersten Jahres also alles andere als lobenswert.
Ein langer und schwieriger Prozess
1986 hatte sich die UdSSR um einen Beobachterstatus in der GATT, dem Vorläufer der WTO, beworben. 1993 wurden offiziell die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Ganze 19 Jahre brauchte Russland, um Mitglied der Welthandelsorganisation werden zu können. Im August vergangenen Jahres war es dann soweit - Russland wurde 156. Mitglied der WTO. "Russlands politische Elite hatte über die Jahre keine einheitliche Meinung zum Thema WTO. Mehr noch: Sie widersprachen sich. Und je nachdem, wer gerade an der Macht war, wurde der Beitrittsprozess beschleunigt oder verlangsamt", sagt Simon Evenett, Wirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen.
Hinzu kommt: Die Verhandlungen mit der Welthandelsorganisation sind nicht zuletzt ein einseitiger Prozess, in dem der beitretende Staat das WTO-Regelwerk langfristig akzeptieren muss. "Die WTO-Vorschriften zum Schutz des geistigen Eigentums oder die Anerkennung der WTO als Gerichtshof, das waren Themen, die den Prozess in die Länge gezogen haben", sagt Rainer Lindner vom Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Russland hätte lange gezögert, diese und andere Vorschriften zu akzeptieren.
Russlands Handelspolitik stößt auf Missbilligung
Ein Jahr nach dem Beitritt scheint Russland in der WTO noch immer nicht angekommen zu sein - viele Ausnahmeregelungen und Übergangsfristen erlauben eine sanfte Eingewöhnungsphase. Für insgesamt 25 Industriezweige hat Russland verschiedene Maßnahmen beantragt, um so seine eigenen Wirtschaftsinteressen zu schützen. Das ist für viele Handelspartner ein Dorn im Auge - und sorgt für reichlich Konfliktstoff. Ein schwelender Streitpunkt: die Autoindustrie.
Zwar senkte Russland im Zuge des Beitritts die Zölle für Autos, doch dann zeigte sich Moskau erfinderisch - und verhängte eine Recycling-Abgabe für Autos, die den Verlust durch die Zollsenkung abfedern sollte und die vor allem Import-Wagen betrifft. Nach EU-Angaben liegt die Gebühr zwischen 420 und 2700 Euro für Neuwagen und zwischen 2600 und 17.200 Euro für Gebrauchtwagen, die älter als drei Jahre sind. Diese Summen seien unverhältnismäßig hoch, kritisieren EU-Kreise und verweisen auf eine Recycling-Gebühr für Fahrzeuge in den Niederlanden, die aber nur 37 Euro betrage.
Autos und Auto-Teile gehören zu den wichtigsten EU-Exporten nach Russland. Der Autoexport der EU nach Russland beläuft sich auf zehn Milliarden Euro jährlich. Seit Einführung der russischen Sonderabgabe im September 2012 sind diese Exporte laut EU-Kreisen um sieben Prozent geschrumpft - obwohl der russische Automarkt wuchs. Die Marke Volkswagen musste im ersten Halbjahr 2013 beispielsweise einen Rückgang von fünf Prozent hinnehmen.
"Das ist kein WTO-konformes Verhalten", sagt Rainer Lindner. Auch Simon Evenett warnt Russland: "Die anderen WTO-Mitglieder erwarten von Russland, dass es nach WTO-Regeln spielt. Russland muss das ernst nehmen, wenn nicht - dann werden noch viele Verfahren folgen", sagt Evenett. Die EU-Beschwerde bei der WTO sei ein Warnsignal an Russland.
Die Recycling-Gebühr für Autos ist nicht die erste Handlung, mit der Russland die Partner in dem ersten Jahr provoziert hat. Wegen einer Änderung der Hygienevorschriften durfte gekühltes Fleisch aus EU, Kanada und den USA nicht nach Russland importiert werden. Die Folge: Der Export von Schweinefleisch aus Deutschland nach Russland sank um ein Drittel im ersten Quartal 2013.
Einen weiteren Streit hat Russland vorerst umgangen: Mitte August hat Moskau die geplante Einführung neuer Vorschriften für den grenzüberschreitenden Lastwagenverkehr um einen Monat verschoben. Russland hatte zusätzliche Finanzgarantien oder auch eine Eskortierung von Lastwagen erwogen. Das könnte den Spediteuren zusätzliche Kosten und bürokratischen Aufwand aufbürden. Die neuen russischen Regeln sollen nun nicht vor dem 14. September in Kraft treten. Dann könnte es so aussehen wie schon 2008, als sich lange Schlangen an den Grenzen zu Russland bildeten. Damals wurden auch spezielle Kontrollen für Lastwagen eingeführt.
WTO Beitritt - gut oder schlecht für Russland
Nach Erhebungen des russischen Meinungsforschungsinstituts Levada waren 2003 noch 59 Prozent der Meinung, dass der WTO-Beitritt in Russlands Interesse ist, 2012 waren es nur noch 44 Prozent. Die Unterstützung in der Bevölkerung schwindet, obwohl es nach dem ersten Jahr noch zu früh ist, über die Konsequenzen des Beitritts zu spekulieren. Erst nach drei bis fünf Jahren würde der Beitritt auch langfristige Folgen zeigen, meinen Experten.
Auf lange Sicht sehen aber viele von ihnen positive Auswirkungen: "Russland wird vom Beitritt profitieren, weil es die Prinzipien der WTO wie Fairness, Nichtdiskriminierung und Transparenz in sein Regelwerk aufnehmen wird", sagt Wirtschaftsprofessor Simon Evenett. Russland werde durch den Beitritt sein Wirtschaftsumfeld verbessern, "das heißt auch die eigene Industrie konkurrenzfähiger machen." Das wird Zeit in Anspruch nehmen. Russland wird sich notgedrungen dem WTO-Regelwerk auf kurz oder lang anpassen müssen. Was auch für ausländische Investoren von Vorteil ist: "Durch die Umsetzung aller im WTO-Beitrittspaket mit Russland vereinbarten Zollsenkungen würde allein die deutsche Wirtschaft um ungefähr eine Milliarde Euro entlastet werden. Aber natürlich nur, wenn Russland die Zollsenkungen auf der einen Seite nicht durch anders gelagerte protektionistische Maßnahmen ersetzt“, sagt Lindner. Deutschland brauche Russland als einen starken Markt. Von Januar bis Mai 2013 wuchsen die deutschen Exporte nach Russland im Vergleich zum Vorjahr nur um 1,3 Prozent.