Nordkoreas Atomtests - Gefahr für die Region
20. November 2017Erst in ihrer Wahlheimat Seoul haben sich die Erinnerungen von Lee Jeong-hwa wie Puzzle-Teile zusammengefügt. Die Mittvierzigerin stammt aus der Ortschaft Kilju in Nordkorea, im bergigen Nordosten des Landes. Das nukleare Testgelände nur wenige Kilometer entfernt hielt sie damals nur für einen gewöhnlichen Militärstützpunkt; das Zittern der Erde nach den ersten zwei Atomtests für natürliche Beben. "Und dann waren da plötzlich diese vielen Erkrankungen, für die uns keiner der Ärzte eine Diagnose geben konnte", erinnert sie sich. Sieben Jahre nach Lee Jeong-hwas Flucht aus Nordkorea befürchtet sie: Ihre Heimatregion könnte nuklear verseucht sein.
Insgesamt sechs Atomtests hat die Kim-Dynastie seit 2006 bis jetzt durchführen lassen, alle davon auf demselben Testgelände in Punggye-ri, dessen Tunnel bis zu zwei Kilometer unter die Erdoberfläche reichen. Die Zündung einer (wahrscheinlich "unechten") Wasserstoffbombe im September war der bisherige Höhepunkt des nordkoreanischen Atomprogramms: Mit einer Sprengkraft von bis zu 200 Kilotonnen war sie mächtiger als alle bisherigen Tests zusammen. Sie löste nicht nur massive Erdrutsche vor Ort aus, sondern auch ein Beben der Stärke 6,1 auf der Richter-Skala, das elf Minuten später noch von einer Messstation im Bayerischen Wald erfasst wurde.
Nimmt Nordkorea nukleare Verseuchung in Kauf?
Seitdem mehren sich die Sorgen vor atomarer Verseuchung. Suh Kyun-ryul, Professor für Kerntechnik an der Seouler Nationaluniversität, geht davon aus, dass die Bergstruktur in Punggye-ri mittlerweile stark in Mitleidenschaft gezogen wurde: "Sollten die Nordkoreaner weiterhin ähnlich starke Atombomben im selben Gelände testen, würde dies früher oder später zu einem vorzeitigen Kollaps führen, bei dem radioaktives Material sowohl in das Grundwasser als auch an die Erdoberfläche gelangen könnte."
Laut der südkoreanischen NGO "Vision of North Korea" ist eine großflächige Verseuchung möglicherweise bereits eingetreten: In einer mehrjährigen Untersuchung haben sie Zeugenaussagen von 21 nordkoreanischen Flüchtlingen aus der Region gesammelt. Deren Aussagen sind erschreckend: Ungewöhnlich viele Pflanzen stürben ab, unterirdische Wasserquellen seien versiegt, Bachforellen - einst eine regionale Spezialität - trieben tot in den Flüssen. Der mit Abstand gravierendste Anklagepunkt: Immer mehr Neugeborene aus der betroffenen Gegend kämen laut Zeugenaussagen mit Geburtsfehlern und Verformungen auf die Welt. Die Aktivistengruppe "Vision of North Korea" glaubt, dass dies Folgen radioaktiver Strahlung seien.
Eine der Interviewten ist die 60-jährige Rhee Yeong-sil, die bis vor ihrer Flucht 2013 nur wenige Kilometer vom atomaren Testgelände entfernt lebte. "Wir hatten mehr Kranke zu beklagen als andere Regionen. Meine ganze Familie litt unter heftigen Kopfschmerzen und Brechreiz, bei denen keine Medizin half", sagt Rhee: "Zudem sind viele an Leukämie gestorben, selbst junge Leute." Sie weiß zudem von mindestens zwei Bekannten, die körperlich deformierte Kinder auf die Welt gebracht hätten.
"Berichte von Flüchtlingen ernst nehmen"
Überprüfen lassen sich solche Aussagen nicht, geschweige denn in einen möglichen Kausalzusammenhang mit radioaktiver Strahlung bringen. Tatsächlich ließe sich das Gros der Vorwürfe auch als Folge der mangelhaften Nahrungsmittelsituation sowie der katastrophalen Gesundheitsversorgung erklären. Doch Experten wie Suh Kyun-ryul von der Seouler Nationaluniversität halten die Anschuldigungen der nordkoreanischen Flüchtlinge für durchaus plausibel: "Ich glaube nicht, dass sie lügen. Aber letztlich müssen wir uns auf ihre bloßen Worte verlassen, weil uns kaum zuverlässige Daten zur Verfügung stehen", so Suh.
Dennoch sollten die Befürchtungen der nordkoreanischen Flüchtlinge als Mahnung an die internationale Gemeinschaft gelten, unabhängige Untersuchungen einzufordern. In Südkorea hat das Vereinigungsministerium unterdessen begonnen, insgesamt 30 nordkoreanische Flüchtlinge aus der betroffenen Region auf erhöhte radioaktive Strahlung zu überprüfen. Laut Angaben einer Ministeriumssprecherin sollen die Resultate der Untersuchungen kurz vor Jahresende vorliegen. Bis dahin werde man den Fall nicht öffentlich kommentieren.