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Schuld verjährt nicht

23. März 2010

Der frühere SS-Angehörige Heinrich Boere ist zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. NS-Kriegsverbrecher erhalten höhere Strafen als in der Vergangenheit. Warum ist das so?

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Heinrich Boere (Foto: AP)
War schon 1949 in den Niederlanden zu lebenslanger Haft verurteilt: Heinrich Boere (links im Bild)Bild: AP

Heinrich Boere hat schwere Schuld auf sich geladen. Drei niederländische Zivilisten hat der ehemalige SS-Mann 1944 erschossen. Der Prozess wurde ihm erst jetzt gemacht, mehr als 60 Jahre nach der Tat. Boere ist schwerkrank, trotzdem erhielt er lebenslänglich. Thomas Will ist Richter am Amtsgericht und Dezernent der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Er fahndet noch immer nach NS-Kriegsverbrechern. Im Interview mit der Deutschen Welle spricht Will über Vergangenheit, Strafe und Gerechtigkeit.

DW-WORLD: Warum gibt es erst jetzt, mehr als 60 Jahre nach Kriegsende Verurteilungen?

Thomas Will: Es gibt nicht erst jetzt, sondern noch immer Verurteilungen. Der Grund besteht darin, dass es sich bei unverjährtem Mord um eine Tat handelt, die nach dem Gesetz von Amtswegen zu verfolgen ist, sobald Kenntnis davon erhalten wird. Die Aufgabe der Zentralen Stelle ist es, solche Taten und Täter noch zu ermitteln und aufzuspüren.

Nach Schätzungen renommierter Historiker haben mindestens 200.000 Deutsche und Österreicher am Holocaust mitgewirkt. Gegen 106.000 Beschuldigte ermittelten deutsche Staatsanwaltschaften, aber nur rund 6500 wurden verurteilt. Warum eine so dürftige Bilanz?

Die Zahl von 200.000 Tätern ist sehr hypothetisch. Der Grund dafür, dass es nicht mehr als 6500 Verurteilungen gibt, ist allerdings sicherlich eine immer gegebene Beweisproblematik, aber zum anderen auch die in den 1960/70er-Jahren aus heutiger Sicht eher weniger harte Rechtsanwendung.

Die letzen NS-Verbrecher haben fast alle lebenslängliche Haftstrafen bekommen, in den 1960/70er-Jahren waren es eher mildere Strafen. Hat hier ein Wandel stattgefunden?

Der mutmassliche frühere KZ-Wachmann, John Demjanjuk. (Foto: AP)
Aktuell in München angeklagt: Der angebliche KZ-Wachmann John DemjanjukBild: AP

Ja, es gibt einen solchen Wandel, schon auf der Personenebene bei den Gerichten, Staatsanwaltschaften und der Polizei. Hier ist niemand mehr möglicherweise selbst belastet oder dem damaligen generellen Konsens des Schweigens unterworfen. Es hat einen Generationenwechsel auch im Hinblick auf die Rechtsauffassung gegeben. Früher galten Hitler, Himmler, Göring und andere NS-Führer als Haupttäter und andere als Gehilfen. Damit konnte man Freiheitsstrafen von wenigen Jahren aussprechen und nicht nur ausschließlich lebenslange Freiheitsstrafen, wie sie bei der Feststellung von Mord zu verhängen sind. Das hat sich tatsächlich gewandelt, der Blick auf Taten und Täter ist unverstellter geworden.

Warum werden alte Straftäter wie Boere, der 88 Jahre ist, noch vor Gericht gestellt?

Weil sie zu verfolgen sind. Eine andere Frage ist die nach der Verhandlungsfähigkeit und später nach der Vollstreckbarkeit, also der Haftfähigkeit. Würde man gegen Nicht-Haftfähige vollstrecken, wäre dies ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Ein verhandlungsfähiger alter Mann hat jedoch die gleichen Rechte und Pflichte wie jüngere Personen.

Was wird mit Boere nach dem Urteilsspruch passieren? Muss er seine Haftstrafe in einem normalen Gefängnis verbüßen?

Selbstverständlich ist auch gegen dieses Urteil Revision möglich, das Urteil ist also noch nicht rechtskräftig. Es wird erst nach Rechtskraft vollstreckbar. In manchen Bundesländern gibt es Vollstreckungsrücksichten auf ältere Gefangene, die jedoch unterschiedlich gestaltet sind. Gleich bleibt jedoch immer der Freiheitsentzug.

Wie glaubwürdig ist so ein Prozess? Der einzige lebende Zeuge, der noch gefunden wurde, gab an, sich an nichts mehr erinnern zu können.

Dieser Prozess ist so glaubwürdig, wie jeder andere Prozess auch, da er nach der gleichen Strafprozessordnung läuft wie andere Prozesse auch. Es gelten die üblichen Beweisgrundsätze. Der Angeklagte hat die Tat im Übrigen auch selbst eingeräumt.

Für die Verurteilten hat der Haftspruch meist keine große Bedeutung mehr, da sie am Ende ihres Lebens stehen. Wozu also noch ein Prozess?

Wehrmachtssoldaten erschießen Gefangene in Serbien 1941 (Foto: AP)
Die deutsche Wehrmacht beging unzählige KriegsverbrechenBild: AP

Es gibt keinen Ermessungsspielraum. Der Prozess wurde geführt, weil er geführt werden musste. Strafe hat viele Funktionen, solche der Vergeltung, aber auch solche der Generalprävention und auch die Bedeutung der Wahrung der Opfer-Interessen. Für viele Angehörige, die Taten selbst mit ansehen mussten, hat ein solcher Prozess die Bedeutung, den Fall ans Tageslicht gebracht zu sehen. Mit der Feststellung eines Schuldigen, einer Schuld und einer Vollstreckung geht es den meisten dabei gar nicht mehr.

Wie konnte jemand wie Heinrich Boere, der schon 1949 in den Niederlanden zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, damals um seine Strafe herumkommen?

Boere war als ehemaliger SS-Angehöriger durch Mitgliedschaft in der SS Deutscher geworden. Er konnte dadurch nach Deutschland gelangen und wurde als Deutscher Staatsbürger nicht ausgeliefert. Die Rechtsauffassung zur begangenen Tat hat sich überdies in der Zeit seither gewandelt.

Wird noch systematisch nach NS-Kriegsverbrechern gesucht oder ist das eher Zufall?

Dass heute noch Täter angeklagt werden, das ist kein Zufall. Die zentrale Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen sucht noch immer systematisch im Inland und vor allem auch im Ausland. Die Arbeit selbst ist sehr mühsam. Manchmal ist es ein glücklicher Zufall, wenn man auf einen lebenden Täter stößt und noch eine Tat nachweisen kann. Dies wird im Laufe der Jahre natürlich nicht leichter.

Interview: Arne Lichtenberg

Redaktion: Kay-Alexander Scholz