NSU-Aufklärung bleibt unbefriedigend
18. März 2017"Achtung! Änderung!" Mit diesen Worten beginnt die Pressemitteilung der Justizpressestelle des Oberlandesgerichtes München vom 10. März. Es folgt der Hinweis auf fünf entfallende Verhandlungstage im Strafverfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund. Dem NSU werden zehn überwiegend rassistisch motivierte Morde sowie mehrere Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle zur Last gelegt. Erst am 23. März soll der Prozess gegen Beate Zschäpe (im Artikelbild) und vier Mitangeklagte wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung fortgesetzt werden.
Es wäre der 354. Verhandlungstag. Beginnen dürfte er mit einer vom Vorsitzenden Richter Manfred Götzl vorzutragenden Entscheidung in eigener Sache. Denn wieder einmal hat die Zschäpe-Verteidigung einen Befangenheitsantrag gegen den gesamten Strafsenat gestellt. In der Hoffnung, den Prozess zum Platzen zu bringen. Die Erfolgsaussichten scheinen - wie immer - gering zu sein. Auslöser für den erneuten Versuch war eine Fristsetzung Götzls am Dienstag vergangener Woche.
Richter Manfred Götzl forciert das Ende der Beweisaufnahme
Bis zum 14. März wollte er den Verfahrensbeteiligten noch Zeit geben, Beweisanträge zu stellen. Das könnte die Ladung von Zeugen betreffen oder das Einführen von Behördenakten in den NSU-Prozess. Dieser plötzliche Zeitdruck war den Verteidigern der Angeklagten, aber auch manchen Nebenkläger-Anwälten von NSU-Opfern dann doch zu heftig. Götzl hob die Frist wieder auf, nannte aber noch keine neue. Vielleicht tut er das ja am nächsten Verhandlungstag. Denn nach fast vier Jahren NSU-Prozess seit dem Beginn im Mai 2013 verfestigt sich der Eindruck, dass es keine neuen Erkenntnisse mehr geben wird.
Möglich wären sie aus Sicht der Nebenkläger und der Angeklagten-Verteidiger schon. Aber fast alle Beweisanträge beider Seiten werden vom Strafsenat schon seit geraumer Zeit abgelehnt, weil sie für die Urteilsfindung keine Rolle spielen würden. Sehr zum Ärger der Antragsteller, die sich davon be- oder entlastende Aussagen in ihrem Sinne erhoffen. Dabei ist allen bewusst, dass der NSU-Prozess nach den Einlassungen des psychiatrischen Gutachters Henning Saß in seine letzte Phase eingetreten ist. Der Mediziner attestiert Zschäpe volle Schuldfähigkeit.
Zschäpes Verteidiger sind mit ihrer Strategie gescheitert
Da die 42-Jährige wegen Mordes angeklagt ist, muss sie mehr denn je mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen. Sogar eine anschließende Sicherheitsverwahrung könnte infrage kommen. Denn auch ohne ihre beiden toten NSU-Weggefährten, die mutmaßlichen Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, sieht der Gutachter bei Zschäpe künftig ein "hohes Risiko von Handlungen gleicher Richtung und Art". Mit anderen Worten: Saß traut ihr zu, nach Verbüßung der Strafe zur Wiederholungstäterin zu werden.
Aber auch, wenn sie nie wieder auf freien Fuß kommen sollte, wird vom NSU-Prozess ein fader Beigeschmack bleiben. Natürlich ist es die professionelle Pflicht der Zschäpe-Verteidiger, das Beste für ihre Mandantin herauszuholen. Aber die lange durchgehaltene Strategie des Schweigens ist ebenso gescheitert wie der Versuch, das Bild einer hilflosen Mitläuferin zu zeichnen. Für die Opfer-Angehörigen wäre selbst eine wegen Mordes verurteilte und auf Dauer weggesperrte Zschäpe zu wenig. Sie hofften vergeblich auf eine für sie nachvollziehbare Erklärung Zschäpes, warum gerade ihr Vater, Sohn oder Bruder vom NSU ermordet wurde.
Auch Politiker zweifeln an der These vom NSU-Trio
Für Aufklärung hätte nach dem mutmaßlichen Freitod ihrer Weggefährten Böhnhardt und Mundlos nur Zschäpe sorgen können. Vielleicht weiß sie wirklich nicht mehr, als sie im Dezember 2015 nach zweieinhalb Jahren des Schweigens von ihren Anwälten verlesen ließ. Der späte Zeitpunkt, die äußeren Umstände und ihr kühles Auftreten insgesamt lassen sie indes sehr unglaubwürdig erscheinen.
Unbefriedigend, ja empörend finden Opfer-Angehörige und deren Anwälte das Agieren staatlicher Behörden. Schon die These vom NSU-Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ziehen sie in Zweifel. Dabei wissen sie sogar die Abgeordneten aus dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages auf ihrer Seite. Dieses Gremium vernahm am 9. März seinen letzten Zeugen: den federführenden Bundesanwalt im Münchener Strafverfahren, Herbert Diemer. Er musste sich viele kritische Fragen anhören. Sie gipfelten in dem Vorwurf, Beweisen nicht nachgegangenen zu sein, um mögliche Verstrickungen des Verfassungsschutzes in die NSU-Mordserie zu verheimlichen. "Das kann man uns nicht und das lass ich mir auch nicht unterstellen", erwiderte Diemer.
Bundesanwalt Diemer hält die Ermittlungen für abgeschlossen
Am 23. März wird er beim NSU-Prozess im Münchener Oberlandesgericht wieder vis-à-vis von Zschäpe sitzen. Die relevanten Ermittlungen hält Diemer für abgeschlossen, wie er bei seiner Befragung durch die Bundestagsabgeordneten in Berlin sagte. Neuen Hinweisen werde aber nach wie vor nachgegangen. In den Ohren der Opfer-Familien und deren Anwälten klingt das wie Hohn. Alle ihre Vorstöße, im NSU-Prozess die fragwürdige Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex aufzuklären, waren erfolglos. Entweder blieben Akten unter Verschluss oder Zeugen wurden erst gar nicht geladen.
Als im Februar Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen und sein Vorgänger Heinz Fromm als Zeugen im NSU-Untersuchungsausschuss auftraten, veröffentlichten 30 Nebenkläger einen Appell. "Dringend muss geklärt werden, warum am 11.11.2011 unmittelbar nach der Selbstenttarnung des NSU maßgebliche Akten vorsätzlich geschreddert wurden", heißt es darin. Der Verantwortliche für die Vernichtungsaktion "Operation Rennsteig" war schon Monate vorher dazu befragt worden. Er gab offen zu, sich der möglichen Brisanz der NSU-Akten bewusst gewesen zu sein.
Was weiß der Verfassungsschützer "Lothar Lingen"?
Die erstaunliche Aussage des Verfassungsschützers mit dem Decknamen Lothar Lingen hat für Bundesanwalt Diemer trotzdem keine neuen Ermittlungsansätze ergeben. Und weil sich daran nichts mehr ändern wird, dürfte sich auch an einer weit über die Nebenkläger-Seite hinausgehenden Wahrnehmung nichts ändern: dass viele offene Fragen rund um die Terrorgruppe NSU unbeantwortet bleiben, weil nicht alle Erkenntnisse auf den Tisch kommen. Ein Dilemma, das auch die Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses erschwerte. Der will im Juni seinen Abschlussbericht vorlegen. Dass dann schon die Urteile im Münchener Prozess gesprochen sein werden, ist eher unwahrscheinlich. Optimisten unter den Verfahrensbeteiligten halten es aber für möglich.