NSU-Prozess: Enttäuschte Hoffnungen
10. Juli 2018"Zu diesem Prozess zu kommen, war niemals leicht für mich", sagt Elif Kubaşik am 21. November 2017 im Prozess gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) vor dem Oberlandesgericht München. Ihr Mann Mehmet war das achte von zehn Opfern der rechtsextremistischen Terrorgruppe, die sich in einem Video zu ihrer zwischen 2000 und 2007 begangenen Mordserie bekannte. Mehmet Kubaşik wurde am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen. Elf Jahre später hält seine Witwe in einem fensterlosen Gerichtssaal ihr Plädoyer.
"Heute ist es auch nicht leicht für mich, diese Leute zu sehen", sagt die Kurdin auf Türkisch. Ihre Sätze werden ins Deutsche übersetzt. Wenige Meter von ihr entfernt sitzen "diese Leute": Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, und vier mutmaßliche NSU-Unterstützer. "Das auszuhalten, ist nicht leicht." Besonders schwer sei es für sie, den Anblick dieser Frau auszuhalten. Gemeint ist Zschäpe, die fast 14 Jahre mit ihren Freunden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Untergrund gelebt hat.
"Ekelhaft, einfach ekelhaft" sei Zschäpes Aussage gewesen
Die Männer wurden am 4. November 2011 nach einem gescheiterten Bank-Überfall in Eisenach (Thüringen) tot in einem ausgebrannten Wohnmobil entdeckt. Nach Erkenntnissen der Ermittler haben sie sich das Leben genommen, um ihrer Verhaftung zu entgehen. Die Bundesanwaltschaft ist davon überzeugt, dass die beiden Mehmet Kubaşiks Leben ausgelöscht haben. Zschäpe will davon erst nach vollbrachter Tat erfahren haben, wie bei allen anderen Morden. So hat sie es im Dezember 2015 von einem ihrer Verteidiger darstellen lassen, der ihre überraschende Aussage nach zweieinhalb Jahren des Schweigens vortrug.
"Ekelhaft, einfach ekelhaft" sei ihre Aussage gewesen, sagt Elif Kubaşik knapp zwei Jahre später im NSU-Prozess, der am 6. Mai 2013 begonnen hat. "Es ist alles Lüge, was sie sagte." Sogar die Form, wie sie sich entschuldigt habe, sei verletzend gewesen. "Das war so, als würde sie uns beleidigen." Zschäpe hatte zwar "moralische Verantwortung" für die NSU-Morde übernommen, mehr aber nicht. Und sie lehnte es ab, Fragen der vielen Nebenkläger zu beantworten. Das empörte die Hinterbliebenen besonders.
Gamze Kubaşik hat sich auf Angela Merkels Versprechen verlassen
Für sie wäre weitere Aufklärung sehr wichtig gewesen, betont Elif Kubaşik. Im Prozess seien ihre Fragen nicht beantwortet worden: "Warum Mehmet? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute vielleicht immer noch?" Es gebe so viele Nazis in Dortmund, sagt die 1991 mit ihrem Mann Mehmet und Tochter Gamze nach Deutschland geflohene Alevitin. Hier hat sie Asyl erhalten und die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.
Gamze Kubaşik hat schon wenige Monate nach dem Auffliegen des NSU und lange vor Beginn des Prozesses das Wort ergriffen. Als Opfer-Angehörige sprach sie am 23. Februar 2012 bei der Gedenkfeier für die Toten. Fünf Jahre und sieben Monate liegen zwischen diesem Datum und ihrem Plädoyer im NSU-Prozess, das sie einen Tag nach ihrer Mutter hält. "Frau Merkel hatte mir persönlich versprochen, dass alles unternommen wird, um die Taten vollständig aufzuklären und alle Täter einer gerechten Strafe zuzuführen", sagt die junge Frau.
Dass die fünf Angeklagten verurteilt werden, dafür sei vielleicht viel getan worden. Aber was sei mit den ganzen Anderen, will sie wissen. Gamze Kubaşik glaubt nicht daran, dass noch irgendwann jemand anderes anklagt werde. "Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen." Der Vorwurf gilt vor allem der Bundesanwaltschaft, die aus Sicht der Nebenkläger und ihrer Anwälte keine ernsthaften Versuche unternommen hat, das NSU-Umfeld zu durchleuchten. "Für mich und meine Familie bleibt es aber ein Leben lang so, dass ich mit quälenden Fragen leben muss", sagt Gamze Kubaşik.
"Wir werden wahrscheinlich nie zur Ruhe kommen"
Dabei habe sie am Anfang des Prozesses "so viel Hoffnung" gehabt, dass nach so langer Zeit endlich Gewissheit komme, dass es eine Sicherheit gebe. Aber diese Hoffnung gebe es nicht mehr. "Wir werden wahrscheinlich nie zur Ruhe kommen. Sie haben das Versprechen gebrochen!" Und damit ist nicht die Bundesanwaltschaft gemeint, die gar keine Versprechen geben kann. Der Vorwurf gilt Angela Merkel. Denn die Bundeskanzlerin verkörpert in ihren Augen den Staat.
Diesem Staat, seinen für die Sicherheit der Menschen zuständigen Behörden werfen NSU-Opfer und Angehörige Versagen auf der ganzen Linie vor. Unfähig, ein über Jahre mordend durchs Land ziehendes Nazi-Netzwerk zu entdecken. Unwillig, bei der strafrechtlichen Aufarbeitung in einem über fünf Jahre dauernden Prozess alle Karten auf den Tisch zu legen. So hat es jedenfalls Muhammet Ayazgün erlebt, der das Nagelbomben-Attentat des NSU am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße mit geplatzten Trommelfellen überlebt hat.
"Warum wird staatliche Verantwortung nicht übernommen, warum gibt es hier immer noch ein Tabu?", fragt Ayazgün während seines Plädoyers im NSU-Prozess. Sein Anwalt habe, wie viele andere, Beweis-Anträge gestellt. Die seien aber abgelehnt worden. Bei diesen Anträgen handelte es sich oft um Zeugen und Akten des Verfassungsschutzes, der im NSU-Umfeld eine fragwürdige Rolle gespielt hat. Doch unter Verweis auf den Quellenschutz blieb alles unter Verschluss, was vielleicht für Aufklärung hätte sorgen können. Ein Vorgehen, dass unter Opfern und Familienangehörigen den Eindruck erweckte, der Staat habe etwas zu verbergen.
"Abschreckend wirkt nicht nur die Strafverfolgung"
Das Gericht müsse die rassistischen Morde als solche bewerten, verlangt Ayazgün. "Dabei muss es auch das Verhalten der Polizei und des Verfassungsschutzes seinem Urteil zugrunde legen." Dazu aber wird es nicht kommen, weil es im NSU-Prozess um die individuelle Schuld der fünf Angeklagten geht. Das mögliche Versagen oder gar die Verstrickung staatlicher Behörden kann und darf bei der Bemessung des Strafmaßes und in der Begründung der Urteile keine Rolle spielen.
Muhammet Ayazgün macht sich da keine Illusionen mehr. "Wie hoch Zschäpe und ihre Mitkämpfer hier verurteilt werden, ist nicht entscheidend." Sein Fazit über den NSU-Prozess fällt vernichtend aus: "Abschreckend wirkt nicht nur die Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung." Mit dieser Einschätzung, eingebettet in sein Plädoyer vom 28. November 2017, dürfte er die Gemütslage wohl aller Nebenkläger zum Ausdruck gebracht haben.
Hinter jedem Namen verbirgt sich eine schreckliche Geschichte
Die Liste der Nebenkläger ist lang. Auf ihr stehen die Namen vieler Familien-Angehöriger der zehn NSU-Mordopfer Enver Simşek, Abdurrahim Özüdoğru, Habil Kiliç, Süleyman Taşköprü, Mehmet Turgut, Theodoros Boulgarides, Ismail Yasar, Mehmet Kubaşik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Hinzu kommen die Namen der über 20 Verletzten der Sprengstoff-Anschläge in der Keupstraße und der ebenfalls in Köln gelegenen Probsteigasse. Für die Nebenkläger steht fest, dass die Aufklärung und der Kampf gegen Rassismus nach dem NSU-Prozess weitergehen muss - trotz oder wegen der großen Enttäuschung.