Plädoyers der Nebenkläger im NSU-Prozess
15. November 2017Immer neue Befangenheitsanträge und wochenlange Unterbrechungen hatten den NSU-Prozess um Monate verzögert. Vor dem Oberlandesgericht München begannen heute mit den Plädoyers der Nebenklage eine neue Phase des Mammutprozesses. Gleich zu Beginn hagelte es Frontalangriffe auf die Hauptangeklagte Beate Zschäpe.
Doch auch die Bundesanwaltschaft, der Verfassungsschutz und die Polizei mussten Kritik der Anwälte einstecken. Die Anwälte Edith Lunnebach und Mehmet Daimagüler warfen den Behörden schwere Fehler und der Bundesanwaltschaft mangelnden Aufklärungswillen vor. Daimagüler sprach sogar von einem sechsten "unsichtbaren Angeklagten: dem Staat". Denn schon nach dem ersten NSU-Mord hätten bei korrekter Ermittlungsarbeit die weiteren Taten verhindert werden können.
Zschäpe werde tatsächliche Tat spüren
Lunnebach griff Zschäpe, die sich als Mittäterin an allen Morden und Anschlägen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) vor dem Oberlandesgericht verantworten muss, scharf an. Sie warf ihr Menschenverachtung und Lügen vor und richtete das Wort direkt an sie: Man könne "nur hoffen, dass Sie, Frau Zschäpe, eines Tages das Ausmaß der Verbrechen, an denen Sie beteiligt waren, begreifen werden und Ihre tatsächliche Schuld spüren". Lunnebach kritisierte, mit ihren schriftlichen Einlassungen habe Zschäpe ein "menschenverachtendes Rührstück" aufgeführt. Zschäpe habe die Fähigkeit, situationsbedingt zu lügen, und die dreiste Erwartung, damit durchzukommen.
War der NSU nur ein Trio?
Lunnebach kritisierte auch Bundesanwalt Diemer massiv an: Sie warf den Anklägern unzureichenden Ermittlungseifer, eine Diskreditierung von NSU-Opfern und deren Angehörigen, Selbstgerechtigkeit und Unverschämtheiten gegenüber den Nebenklage-Anwälten vor. So hätten die Ermittler in der NSU-Tatserie ein rechtsextremes Motiv nicht in Betracht gezogen, obwohl es dafür zahlreiche Anhaltspunkte gegeben habe. Insbesondere kritisierte sie, dass die Bundesanwaltschaft weiter davon ausgehe, dass es sich beim NSU um eine Terrorzelle aus lediglich drei Personen gehandelt habe. "Ich weiß nicht, warum sich die Bundesanwaltschaft mit der einfachen Antwort und der Zuschreibung der Taten in die Isoliertheit des Trios zufriedengibt", sagte die Anwältin. Lunnebach vertritt eine Frau, die am 19. Januar 2001 beim ersten Bombenanschlag des NSU auf das Lebensmittelgeschäft ihrer Familie in der Kölner Innenstadt lebensgefährlich verletzt wurde. Das rechtsextreme Trio soll im Untergrund zwei Bombenanschläge, zehn Morde und mehr als ein Dutzend Überfälle verübt haben.
Lunnebach argumentierte, dass an dem Anschlag ein unbekannter Mittäter beteiligt gewesen sein müsse. Sie kritisierte, dass gegen einen namentlich bekannten Kölner Neonazi nicht ermittelt worden sei, weil er ein V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen sei. Und sie warf den Anklägern vor, weitergehende Aufklärungsbemühungen der Nebenklage diskreditiert zu haben.
Opfer wurden zu Tätern
Auch Daimagüler, der unter anderem die Tochter eines NSU-Mordopfers vertritt, betonte, seine Mandanten hätten sehr wohl Zweifel an der These der Bundesanwaltschaft von einer "isolierten Zelle". "Ich würde mir wünschen, dass Sie diesen Menschen mit Respekt und nicht mit Hochmut begegnen", sagte Daimagüler zum Bundesanwalt. Daimagüler argumentierte, das NSU-Trio sei "der Kern eines deutschlandweiten Netzwerks von Nationalsozialisten und Rassisten" gewesen. Wenn jemand sage, der NSU sei Geschichte, dann müsse er fragen: "Woher wissen wir das eigentlich?" Zudem klagte Daimagüler, dass nach den Morden oftmals die Angehörigen fälschlich verdächtigt worden seien. "Die Würde der Opferfamilien wurde ihnen vom Staat genommen, der sie beschuldigte, der sie abhörte", sagte er.
Zschäpe ist das einzige noch lebende Mitglied des NSU - ihre Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt haben sich den Ermittlungen zufolge nach einem fehlgeschlagenen Banküberfall im November 2011 getötet. Das Verfahren gegen sie und vier Mitangeklagte läuft seit Mai 2013. Die Plädoyers der 55 Nebenklage-Anwälte dürften insgesamt viele Wochen dauern. Anschließend sind dann die Verteidiger am Zug.
Bundesanwalt Herbert Diemer hatte in seinem Plädoyer die Höchststrafe Zschäpe gefordert: lebenslange Haft und Sicherungsverwahrung. Für die Mitangeklagten forderte die Bundesanwaltschaft zwischen drei Jahren Jugendhaft und zwölf Jahren Gefängnis. Die Nebenklagevertreterin verzichtete auf eine eigene Strafmaßforderung für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und die mitangeklagten vier mutmaßlichen NSU-Helfer.
sam/stu (afp, dpa)