NSU-Prozess: Plädoyer mit Überraschungen
12. September 2017Lebenslange Freiheitsstrafe für Beate Zschäpe, das wären üblicherweise 15 Jahre Gefängnis. Doch aus Sicht der Ankläger wäre das für die Hauptangeklagte im Strafverfahren gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zu wenig. Deshalb fordert Bundesanwalt Herbert Diemer am Dienstag vor dem Münchener Oberverwaltungsgericht anschließende Sicherungsverwahrung für Zschäpe. Sollte die 42-Jährige tatsächlich dazu verurteilt werden, würde sie - wenn überhaupt - als sehr alte Frau ihre Freiheit wiedererlangen.
Auf hohe Strafen müssen sich auch der frühere Funktionär der verfassungsfeindlichen NPD, Ralf Wohlleben, und André E. einstellen. Für beide fordert die Bundesanwaltschaft zwölf Jahre Freiheitsentzug. Wohlleben gilt als die treibende Kraft bei der Beschaffung jener Waffe vom Typ "Ceska" inklusive Schalldämpfer, mit der zwischen 2000 und 2006 neun Männer mit ausländischen Wurzeln kaltblütig ermordet wurden.
Letztes Opfer war die Polizistin Michèle Kiesewetter. Die mutmaßlichen Todesschützen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben sich beim Auffliegen des NSU im November 2011 das Leben genommen.
André E. wird in Gewahrsam genommen - wegen Fluchtgefahr
Ihnen hat Carsten S. nach eigener Aussage die "Ceska" übergeben. Wohlleben hingegen streitet eine Verwicklung in die Taten des NSU ab. Wie wenig ihm die Bundesanwaltschaft glaubt, lässt sich an der für ihn geforderten Strafe ablesen. Dass André E. die gleiche Freiheitsstrafe erhalten soll, überrascht sogar manche Anwälte von NSU-Opfern und deren Angehörigen. Sebastian Scharmer, der die Tochter des NSU-Opfers Mehmet Kubasik vertritt, findet die geforderten zwölf Jahre unter dem Eindruck des Plädoyers aber "durchaus plausibel". Der 38-Jährige E. soll für das mutmaßliche Terror-Trio Wohnmobile angemietet und falsche Identitäten vorgetäuscht haben.
Deshalb, sagt Kubasik-Anwalt Scharmer, sei die Prüfung eines Haftbefehls für E. die "logische Konsequenz". Anders als Zschäpe und Wohlleben durfte er während des inzwischen vier Jahre und vier Monate dauernden NSU-Prozesses auf freiem Fuß bleiben. Wegen Fluchtgefahr ordnete der Vorsitzende Richter Manfred Götzl nun an, E. vorsorglich in Gewahrsam zu nehmen. Offenbar rechnete der Angeklagte sogar damit. Denn er habe eine Tasche gepackt, "um gewappnet zu sein", sagt sein Strafverteidiger Michael Kaiser. Gewappnet für eine Nacht in einer Zelle statt in einem Hotelzimmer.
Wer aussagte, darf mit milderen Strafen rechnen
Auf längere Aufenthalte im Gefängnis müssen sich auch die Angeklagten Carsten S. und Holger G. einstellen: Drei Jahre Haft auf der Basis des Jugendstrafrechts fordert die Anklage für den geständigen Waffen-Lieferanten, der zur Tatzeit 19 Jahre alt war. Holger G. soll zu fünf Jahren verurteilt werden - unter anderem wegen der Überlassung eines manipulierten Reisepasses und der Beschaffung einer weiteren Waffe. Sollte der Strafsenat den Vorstellungen der Bundesanwaltschaft folgen, kämen S. und G. vergleichsweise glimpflich davon.
Bei Carsten S. fände Nebenkläger-Anwalt Scharmer ein entsprechendes Urteil gerecht. Er sei der einzige Angeklagte, dem seine Mandantin Gamze Kubasik die gezeigte Reue "abgenommen hat". Er habe Aufklärungshilfe geleistet. Das sei ihm hoch anzurechnen. "Ohne Carsten S. hätten wir dieses Verfahren wahrscheinlich nicht so durchführen können", vermutet Scharmer. Er findet anderseits die Forderung der Bundesanwaltschaft, Zschäpe nach verbüßter Haft in Sicherungsverwahrung zu nehmen, "rechtlich problematisch".
Sicherungsverwahrung für Zschäpe könnte Revisionsgrund sein
Dagegen spricht aus Sicht des Berliner Anwalts die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs. Deshalb sieht Scharmer einen "symbolischen Akt", der zu einer Revision des Urteils führen könnte. Bedenken äußert auch Anwalt Stephan Lucas, der die Tochter des NSU-Opfers Enver Simsek in München vertritt. "Ein Urteil, dass nach so vielen Jahren aufgehoben würde, wäre für alle eine Katastrophe." Aber Lucas scheint damit zu rechnen, dass Zschäpe nach einer möglichen lebenslangen Strafe die anschließende Sicherungsverwahrung erspart bleibt. "Das Gericht nimmt sich bei allen Entscheidungen Zeit und will keine Fehler machen."
Zufrieden verlässt Yvonne Boulgarides am Dienstag den Gerichtssaal. Ihr Mann Theodoros war 2005 das siebte Opfer in der damals noch völlig rätselhaften Mordserie an Menschen mit Migrationshintergrund. Trotz all der offenen Fragen, mit denen sie zurückgelassen bleibe, gebe es wenigstens hinsichtlich der geforderten Strafmaße "Gerechtigkeit". Was sie die vielen Jahre "ganz schlimm" gefunden habe, "ist die Ignoranz der Angeklagten den Hinterbliebenen gegenüber oder eben auch den Opfern der Bombenattentate". Allein beim Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße wurden weit über 20 Menschen teilweise schwer verletzt.
Opfer-Witwe vermisst bei den Angeklagten ein "Umdenken"
Es habe sie angesichts der langen Prozessdauer erschrocken, "dass kein Umdenken stattfindet", sagt Yvonne Boulgarides. Sollten die fünf Angeklagten zu hohen Haftstrafen verurteilt werden, hätten sie "genügend Zeit, darüber nachzudenken". Neben ihr steht Yavuz Narin, einer ihrer Anwälte. Ihn und all die anderen lobt die Witwe in den höchsten Tönen. "Ich ziehe meinen Hut vor jedem dieser Nebenkläger-Anwälte." Mit Blick auf die Urteile ist sie zuversichtlich, dass der Strafsenat unter dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl den Forderungen der Anklage folgt: "Ich hoffe, dass sie in die Vollen gehen."